Extras

Alpers Anwesen(d)

Im Adventskalender des S. Fischer Verlags veröffentlichen wir an vier Dezemberfreitagen jeweils eine weihnachtliche Geschichte. In der dritten Geschichte von Anna Yeliz Schentke strahlt ein atheistisches Weihnachten so hell, dass in der ganzen Straße die Sicherungen rausfliegen.

Porträt der Autorin Anna Yeliz Schentke. Sie steht in einer schwarzen Bluse vor einem unscharfen Hintergrund und schaut direkt in die Kamera.
© Robert Schittko

30-Meter Eisregen-Lichterkette Lichtervorhang warmweiß, Solarleuchte „Stars in Heaven“ Dämmerungsautomatik, Lichtschlauch Rentier mit Schlitten lebensgroß, Büschellichterkette 48000 warmweiße LEDS mit Leuchtfunktion, LED-Stern auf Ständer auch für raue Witterung, Lightning Garden Gartenstecker für ein festliches Ambiente 15 Meter, Acryl-Schneemann mehrfarbig mit Blinklichtfunktion.

wer nicht hören will, muss sehen

Mit einem Schlag ist alles dunkel. Die Spülmaschine hört auf zu brummen, sie gluckert noch ein oder zwei Mal nach. Das ist nicht die Sonne, die da ins Fenster scheint.
„Was ist denn mit denen los?“, fragt Ira, sie steht fassungslos neben mir in der Küche. Aus dem Fenster unserer Wohnung im zweiten Stock gucken wir hinunter auf das grell-erleuchtete Haus der Familie Alper.

„Ich dachte, die sind Atheisten“, sagt Ira, macht das Licht ihres Smartphones an und geht zum Sicherungskasten im Flur.
„Alle rausgesprungen“, ruft sie zu mir in die Küche, „und die anderen Häuser in der Straße sind auch dunkel, komm mal rüber.“

Selbst die Straßenlaternen, die wir nur noch schemenhaft erkennen, sind aus. Aber das Haus der Alpers strahlt von unserem Küchenfenster bis zu uns ins Wohnzimmer herüber. Wie offenes Feuer.

„Wird schon gleich wieder angehen“, sagt Ira.
„Willst du denn nicht wissen, warum die Alpers das gemacht haben?“, frage ich sie.

Als wir vor zwei Jahren eingezogen sind, in den einzigen anderen Altbau in der Straße – Altbau klingt besser als Bruchbude – hat das ältere Paar ihren Sohn zu uns rübergeschickt. Tragen helfen. Der war gerade zu Besuch. Abends, als dann alles geschafft war, standen wir mit einer Schachtel Pralinen vor ihrer Tür. Frau Alper öffnete, „Seid ihr fertig?“, fragte sie, „kommt rein, wir haben noch Linsensuppe, wollt ihr eine Schüssel?“ Wir bekamen Pantoffeln, die zu klein waren, aber der Teil des Fußes, der reinpasste, ging wie auf Wolken.

„Das war bestimmt nicht mit Absicht“, sagt Ira, „der alte Alper kennt sich doch aus. Geht bestimmt gleich wieder alles an.“

Elektrofachmeister, Elektrotechnikfachmeister, Industriemeister Elektrotechnik. Ich weiß es nicht mehr, aber es hing ein Meisterbrief an der Wand im Wohnzimmer. Frau Alper machte zwei Kerzen an. „Wir zwei mögen es gemütlich“, sagte der Alte, „und die Flamme ist billiger als der Strom.“ Ein krummer Rücken, rote Hosenträger, darunter ein einfaches Sweatshirt in blau, Schnurrbart, grau-schwarz-meliert, ehrliche Augen in braun.

Das Haus sah von außen so unscheinbar aus, fast ein bisschen spießig, alles sehr ordentlich, aber der graue Putz der Fassade, der vielleicht einmal weiß war, bröckelte herunter. An anderen Stellen wurde mit hellerem Grau ausgebessert. Die weißen Gardinen konnte man von der Straße aus sehen. Sie strahlten umso mehr, weil die Fassade des Hauses so verbraucht war.

„Wir hoffen, dass sie euch drüben in Ruhe lassen“, sagte Frau Alper. Es wurde fast konspirativ. „Na, ihr seht doch die ganzen Neubauten in der Straße. Die Baustelle an der Ecke wird uns sicher noch eine ganze Weile quälen.“

Real Estate, echte Anwesen. Anwesen sind am Wesen. Unbewegliche Sachgüter, in denen wir wohnen. Investition Corporate Management Real Estate.

„Die von der Real Estate“, sagte Frau Alper, und sprach das letzte E mit aus, „versuchen uns schon seit fünf Jahren hier rauszubekommen.“

asche auf dein haus

Früher waren die Alpers nicht allein, erfuhren wir. Freunde und Bekannte wohnten mit ihnen hier, in der gleichen Straße. Aber heute sind wohl alle weggentrifiziert oder tot. Die Alpers sind hier unsichtbar, ihr Haus ein Fremdkörper zwischen großen Glasfassaden, frisch verputzten Wänden und Massivholzmöbeln auf den Balkons der neuen Mehrfamilienhäuser.

„Den Platz wegnehmen würden wir, weil man ja auf dem Grundstück auch in die Höhe bauen könne.“, schimpfte der alte Alper, „aber eine Wohnung in einem solchen Haus wäre für uns unbezahlbar.“

Sie wollen aus dem Haus der Alpers ein Anwesen machen. „Anwesen“ liegt so nah an „Anwesend“, liegt so nah an „Abwesend“, dachte ich. Estate mit einem E am Ende.

Das war ziemlich früh am Morgen, irgendwann letztes Jahr vor Weihnachten, als ich zur Arbeit ging. Die Lichtfarben der verschiedenen Lampen in den neuen Mehrfamilienhäusern, die durch die großen Fensterfronten drangen, verschwammen durch meine beschlagene Brille zu einem Orange-pastell. Ich sah den alten Alper erst, nachdem ich hörte, wie er mit einer Schneeschippe das Weiß an den Rand schob.

niemand sollte vor seiner eigenen Tür kehren

„Guten Morgen Herr Alper“, sagte ich. Er grüßte zurück. „Ganz schön kalt heute“, sagte er. Ich hatte den dicken Daunenmantel an, Mütze, Schal, Handschuhe. Er in Latzhose mit Wollpullover darunter.
„Ja, und dunkel“, sagte ich.

Der alte Alper lachte freundlich, winkte mir mit seiner Hand hinterher und schippte weiter. Ich blieb noch stehen und sagte „Frohe Weihnachten und liebe Grüße an Ihre Frau.“ Andere hätten vielleicht einfach „Danke“ gesagt, oder „Ihnen auch“. Der alte Alper aber wurde plötzlich sehr ernst. „Danke, aber wir sind überhaupt nicht gläubig. Dieses Ganze mit der christlichen Nächstenliebe und Glitzer und hier und da, das ist alles nicht echt.“
„Dann wünsche ich Ihnen einfach schöne Feiertage“, sagte ich und ärgerte mich später, ihm nicht zugestimmt zu haben. Aber ich musste los, kurz vor den Feiertagen durfte ich nicht zu spät sein.
„Danke“, sagte er, „das wünsche ich euch auch.“

Ira und ich, wie wir vor unserem Küchenfenster stehen. Bestimmt schon seit einer Stunde.
Die Lichter strahlen so aggressiv hell, dass sie noch nachblinken, wenn man die Augen schließt. Grün, gelb, rot, blitzen sie auf.

30-Meter Eisregen-Lichterkette Lichtervorhang warmweiß, Solarleuchte „Stars in Heaven“ Dämmerungsautomatik, Lichtschlauch Rentier mit Schlitten lebensgroß, Büschellichterkette 48000 warmweiße LEDS mit Leuchtfunktion, LED-Stern auf Ständer auch für raue Witterung, Lightning Garden Gartenstecker für ein festliches Ambiente 15 Meter, Acryl-Schneemann mehrfarbig mit Blinklichtfunktion.

wer nicht hören will, muss sehen

Anna Yeliz Schentke ist 1990 in Frankfurt geboren, aufgewachsen und lebt auch heute dort. Das letzte Mal in Istanbul war sie Ende 2015. Im Frühjahr 2020 nahm sie an der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teil und stand im Herbst 2020 auf der Shortlist des Wortmeldungen-Förderpreises. Ihr Debütroman »Kangal« (2022) stand ...

Zur Autorin

Von der Freundschaft in instabilen Zeiten

Zum Buch