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»Gedichte so unmittelbar, so eindringlich, als säße eine Schwester neben mir.«

»Gedichte so unmittelbar, so eindringlich, als säße eine Schwester neben mir«, sagt Sharon Dodua Otoo über Warsan Shires Gedichte. Sie haben einen weiten Hallraum. Zwischen Somalia und London zeichnen sie Erfahrungen von Emigration und Diaspora nach, nicht nur auf der Landkarte, auch auf der eigenen Haut. Ihre Texte oszillieren zwischen den Sprachen, der zurückgelassenen und der erworbenen, und finden Worte von solch beunruhigender Klarheit, dass sie sich wie Tattoos uns einbrennen. Um diese rastlose Vielfalt in der Übertragung wiederzufinden, bildete sich auf Einladung von Sharon Dodua Otoo ein Kollektiv aus Übersetzer*innen und Autorinnen, die die entstehenden Texte gemeinsam diskutierten und durcharbeiteten: die für ihre Übersetzungen afrodiasporischer Literatur bekannte Mirjam Nuenning, der Übersetzer und Lektor Hans Jürgen Balmes, sowie die Autorin Muna AnNisa Aikins. Ihre Gedanken und Aufzeichungen zu den Gedichten entstanden während dieses Prozesses.

Die Autorin Warsan Shire schaut über ihre Schulter, ihre Hände liegen gefaltet auf ihrer Schulter, sie trägt einen bunten Kopfschmuck und schwarze Kleidung
© Amaal Said

Aufzeichnungen und Gedanken von Muna AnNisa Aikins

 

In Warsans Gedichten ist das Diesseits

im Jenseits

ohne Frieden.

 

*

 

Das Rauschen des Meeres ruft dich zu sich. 

Verführt dich. Verspricht dir andere Leben. 

Die Sehnsucht nimmt dich in Gefangenschaft um zu dir zu flüstern: sei frei. 

 

*

 

Der Überlebensinstinkt hält dich wach auf einer Reise deren Ankunft bestrebt ungewiss bleibt. Fremde, die zuhause ist, Zuhause das fremd ist, eingeweiht, duftend nach Weihrauch. Eingeatmete Erinnerungen. Erinnerungen, die am Leben halten, doch das Sein erschweren. Träume voller Lebensfragen.

 

*

 

Warsan verschmiert Blut ohne es selbst vergossen zu haben, 

sie schmiert es auf das Gewissen der Welt 

und es vertrocknet in unseren Gedanken.

 

*

 

Das Tröstende ist die Sehnsucht

das Schöne in der Trauer selbst.

Flüchtige Gewissheiten,

Schönheiten im Wind. 

 

*

 

Die Befreiung ist eine Frage im Raum, der Raum unbekannt, groß und hungrig. Füllst du ihn oder frisst dich die Leere auf?

 

*

 

Der Raum ist der Körper

der Mond

die Vergangenheit.

 

*

 

Segnungen, die nicht heilen, aber auf wunderliche Weise erhalten.

 

*

 

Warsan schreibt Gedichte, die verkörpern, was Menschen nicht tragen können.

Wörter stützen Generationen, Gebete Existenzen,

verdichtet, dass sie alles halten, sie zusammenhalten,

 

Das Zerbrochene wird in ihrem Blick ganz. Ganze Leben. 

 

*

 

Im vergossenen Blut ihrer Gedichte wurzeln viele Seelen. Auf ihnen blüht neues Leben und Warsan schafft es den Moment zwischen Leben und Leblosigkeit zu transformieren, das Verblühen des Selbst eindringlich zu vermitteln.   


 

Im vergossenen Blut ihrer Gedichte wurzelt auch meine Seele.

 

Muna AnNisa Aikins ist Sozialforscherin und Autorin des 2020 erschienenen Romans „Die Haut meiner Seele“.

Sensibel und kompromisslos

Zum Bücher

Die somalisch-britische Autorin Warsan Shire wurde 1988 in Kenia geboren und zog mit ihren Eltern als Kleinkind nach London, wo sie studierte. Bereits mit 15 nahm sie an Poetry Workshops teil und wurde unter anderem von Bernardine Evaristo gefördert. 2011 veröffentlichte sie ein schmales Chapbook mit Gedichten, »Teaching My Mother ...

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