Extras

Calvino30: Anne Weber: Dann regnete es in die hohe Phantasie hinein

Vor 30 Jahren schrieb Italo Calvino seine berühmten Harvard-Vorlesungen. Zur Erinnerung und Bestandsaufnahme im Wintersemester 2015/16 haben sich mehrere Autorinnen und Autoren diese Vorlesungen noch einmal angesehen: Anne Weber über literarische Schnelligkeit und künstlerische Intuition.

Ein wiederkehrender Traum: Es gilt, einen Zug zu erreichen oder eine Verabredung, es ist schon spät, beinahe zu spät. Wahnwitzige Anstrengung, um so schnell wie möglich das Ziel zu erreichen, sich überhaupt vorwärtszubewegen. Glieder stecken wie in Schlick oder in Kleister, maximaler Kraftaufwand bei minimalem Ergebnis. Fortbewegungsgeschwindigkeit gleich null. Ein Alptraum, der den Träumer zerschlagen am selben Fleck zurücklässt. Alle Züge abgefahren. 

Was ist schnell? Hundert Meter in weniger als zehn Sekunden zurückzulegen, wenn man ein Mensch, dreihundert Kilometer in einer Stunde, wenn man ein Auto, drei Meter, wenn man eine Schnecke ist. Schnelligkeit als kürzeste zwischen zwei Punkten verbrachte Zeit und als kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten. 
Was heißt schnell in der Literatur? Ein Mann bringt sich um, weil er sich in eine junge Frau verliebt hat, die schon einem anderen versprochen ist? Einer wacht morgens als Käfer auf und stirbt, da seine Familie sich von ihm abwendet, an Vernachlässigung? Eine Glocke wird geschmiedet, eine Familie gegründet, eine Feuersbrunst, ein Aufstand entfacht? 
Schnelligkeit im üblichen Sinne ist das genaue Gegenteil von dem, was Literatur ausmacht. Oder etwa nicht? Kein stures Spurten von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel ist jedenfalls gemeint. Manchmal sogar das Gegenteil, wenn wir an die Familie der Abschweifungs- und Umwegekünstler unter den Schriftstellern denken, deren gemeinsamer Vorvater Laurence Sterne ist. Aber auch die übrigen sind nicht allesamt Geschwindigkeitschampions. Hat Dichtung, insofern sie Verdichtung ist, trotzdem etwas mit Schnelligkeit zu tun? Sind Dichter Sprinter?
In der chinesischen Geschichte, die Calvino wiedergibt, entsteht eine vollkommene Zeichnung blitzschnell, aber nach zehn Jahren einer inneren Vorbereitung, die den Anschein des Nichtstuns hat, wie es morgendländischer Denkweise und Spiritualität entspricht. Im Abendland braucht die Vollendung einer Zeichnung, eines Gedichts, unter Umständen ebenfalls zehn Jahre, die aber nicht mit Meditation, sondern mit dem Erstellen unzähliger Varianten vergehen. Offenbar gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich kurz zu fassen, die aber alle äußerst zeitaufwändig sind. 
In welche Schlupfwinkel verzieht sich die Schnelligkeit beim Schreiben?
Der französische Schriftsteller François Bon notiert ein Zitat von Balzac, wonach ein dicker Hals und kurze Arme der Übertragung der Gedanken von Hirn zu Hand und somit der Schreibgeschwindigkeit zum Vorteil gereichen. Wer auf diesen Satz stößt, muss lachen, schreibt François Bon. Dann wirft er einen Blick in den Spiegel. 
An einem anderen Satz von Balzac (aus dem Roman Louis Lambert) sind vor François Bon schon Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin hängengeblieben: »Toute poésie comme tout œuvre d'art procède d'une rapide vision des choses« (Poesie und Kunst erwachsen aus einer schnellen Schau der Dinge, übersetzt Benjamin). Und noch aus einem weiteren Roman Balzacs zitiert Benjamin in diesem Zusammenhang: »In Seraphita wird als ein Wesensmerkmal der künstlerischen Intuition die Schnelligkeit angeführt: ›cette vue interieure dont les veloces perceptions amènent tour à tour dans l'âme, comme sur une toile, les paysages les plus contrastants du globe‹« – jene innere Sicht, deren flinke Wahrnehmungen abwechselnd, wie auf einer Leinwand, die gegensätzlichsten Landschaften des Erdballs herbeiführen.  
In den Geist des Dichters, dem solche Bilderblitze zuteil werden, dringen unvermittelt Visionen ein. »Poi piovve dentro a l'alta fantasia«, zitiert Calvino aus Dantes Purgatorio: Dann regnete es in die hohe Phantasie hinein. Das innere Auge sieht auf einmal etwas, was sich kurz zuvor noch seiner Wahrnehmung entzog; ein Bild, in dem sich Verschiedenartiges, ja, unter gewöhnlichen Umständen Unvereinbares, zusammenfügt und ballt. 
Womöglich ist die künstlerische Intuition, wie Benjamin sie verstand, nichts grundsätzlich anderes, als was in früheren Zeiten Inspiration oder Eingebung hieß und dem Künstler einst war, was dem Christen die Gnade. In der Moderne bekommt die Eingebung andere Namen. Auch wird sie uns nicht mehr durch den Hauch oder den Regen Gottes, sondern eher von Eisenbahn und Flugzeugen oder jedenfalls in deren Geschwindigkeit zugetragen. 
Bei Calvino ist aber noch eine andere Schnelligkeit gemeint, die neben dem »Hineinregnen« zu den schönsten Erfahrungen des Schriftstellers gehört: »Schnelligkeit im Stil und im Denken bedeutet vor allem Agilität, Mobilität, Zwanglosigkeit«. Tatsächlich gibt es Momente, in denen der eingangs erzählte Traum sich geradezu in sein Gegenteil verkehrt; Momente, ja, ganze Phasen, in denen nichts oder nur Geringfügiges den Schöpferdrang hemmt und eine ungeahnte geistige Gelenkigkeit, Zwanglosigkeit und Freiheit herrschen. Alles wird möglich. Konventionen, Denkbahnen, Gepflogenheiten – weggewischt. Die Gleise stehen in der Landschaft und schauen missmutig den Zügen nach, die neben ihnen in alle Richtungen davonstieben und unversehens vom Boden abheben. Ja, heute haben wir die Kraft, die Richtung des Regens umzukehren. Es regnet in den Himmel hinein! 
In ihren besten Momenten bewirkt literarische Schnelligkeit einen doppelten, doppelt beglückenden Wasserschaden. 

Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Zuletzt erschienen bei S. Fischer »Kirio«, »Ahnen«, »Tal der Herrlichkeiten«, »August« und »Luft und Liebe«. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. 2020 wurde sie zur Stadtschreiberin ...

Zur Autorin
Italo Calvino, am 15. Oktober 1923 in Santiago de las Vegas auf Kuba geboren, wuchs in San Remo auf. Er arbeitete mehrere Jahre als Lektor des Verlages Einaudi und als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in alle Weltsprachen übersetzt. Italo Calvino starb am ...
Zum Autor