Um überhaupt einen Anfang zu machen, fuhren wir am nächsten Tag nach Tripoli. N., eine libanesische Künstlerin war dabei, die sich in der Stadt etwas auskannte, obwohl sie sich ungern als Frau allein in ihr bewegte. Es gab in der Innenstadt ein Hotel, das während des Krieges eine Rolle gespielt haben soll und das für die Recherche geeignet zu sein schien. Es gab auch schon einen Namen: Palace Hotel. Wir mussten es nur noch finden. S. verbreitete wie üblich seinen unerschütterlichen Optimismus und N. war auf so begeisternde Art exzentrisch, dass eigentlich nichts schiefgehen konnte.
»Ich fahr euch«, sagte sie, während wir die berühmte Bauruine von Oscar Niemeyer, das nicht fertiggebaute Messegelände am Stadtrand von Tripoli besichtigten. N. zählte Cindy Sherman und Marina Abramović zu ihren Lieblingskünstlern, tat sich aber schwer, sich in dem konservativen Tripoli als Künstlerin zu behaupten. Später fuhr sie uns in ihrem Auto durch die Stadt, das sie so behandelte wie ein Künstler des Wiener Aktionismus seinen Körper. Als wollte sie die Grenzen der Kunst ausdehnen und erweitern, die die Stadt ihr auferlegt hatte. Ihr Auto war gleichzeitig ein Medium, durch das sie mit der Außenwelt kommunizierte. In diesem Fall mit uns: So schleuderte uns ihre Bereitschaft »wild« zu sein und sich eventuell über alles hinwegzusetzen entgegen mit einem riesigen Haufen Blech, fleckigen Stoffbezügen und einem in der Hitze rissig gewordenen Armaturenbrett. Außerdem ließ sich das Fenster der Seitentür nicht mehr ganz schließen.
»Ich weiß sowieso nicht, ob ich noch lange im Libanon bin«, sagte sie.
»Nein?«, fragte ich erstaunt.
»Ich werde bald weg sein. Ziemlich sicher.« Wir liefen ziellos, halb in kokettierenden Gesprächen verwickelt über das Niemeyer-Gelände, bevor wir uns auf den Weg zum Palace Hotel machten. Das Niemeyer-Gelände war ein vergessener Teil der modernen Architektur. Niemeyer hatte sich mit dem Bauherrn überworfen und sich später von dem Projekt distanziert. Hier könnte man sagen, war die Moderne gescheitert. Die Rohbauten der Anlage sahen so aus wie Geisterstädte, so als hätte man sich in letzter Sekunde dazu entschlossen, alles stehen und liegen zu lassen. Eine verlassene Landschaft von unfertigen, unabgeschlossenen architektonischen Monumenten, die über den Entwurfscharakter nicht hinausgekommen waren. Die Hitze wurde schließlich so stark, dass wir in die nicht fertig gebaute Konzerthalle flüchteten. Ein wogender Strauß aus eisernen Verstrebungen hing von der Decke herunter.
»Und was machst du im Libanon?«, fragte mich N. Ich schaute nach oben, zu den Eisenverstrebungen, den langen Metallhaaren, die wahrscheinlich eine Zwischendecke hätten tragen sollen, die für eine gute Akustik unumgänglich gewesen wäre.
»Ich suche nach einem Hotel«, sagte ich und schaute mich um, als hätte ich den gesuchten Ort vielleicht schon gefunden. Aber in Wirklichkeit wollte ich gar nicht darüber sprechen und tiefergehende Nachfragen über das Projekt am liebsten verhindern.
Wir parkten in der Innenstadt. Ich kaufte mir eine wüstenbraune Nike-Mütze, um mich vor der Sonneneinstrahlung zu schützen, und wir liefen die Straßen auf der Suche nach dem Palace Hotel ab. Es erwies sich als schwierig. S. wollte die Sache schnell hinter sich bringen, N. wollte ohnehin nur flirten und über Kunst sprechen und wir wären beinahe einfach vorbeigegangen, weil sich die Lobby des Hotels, falls es überhaupt eine gab, im zweiten Stock befand.
»Es hat zu, oder?«, murmelte S., der schon an das eingeplante Mittagessen dachte, als wir schließlich vor dem Hotel standen.
»Sieht so aus«, stimmte N. zu und rückte ihre provisorische Kopfbedeckung zurecht. Ihre anfängliche Begeisterung war etwas abgeklungen. Sie fühlte sich als Frau nicht wohl in der Innenstadt. Sie fühlte sich beobachtet, als dürfe sie hier gar nicht sein. Einmal habe sie schon daran gedacht, eine Performance zu machen, bei der eine verschleierte Frau mit einem Tschador in einem Hauseingang steht und wartet. Einfach so. Und sie würde nichts tun. Schon allein das wäre eine Provokation gewesen. Und es war geradezu utopisch so etwas zu riskieren, erklärte N.
Vielleicht hatte ich es von meinem Vater gelernt: Du betrittst ein Hotel so, als würde es dir gehören. (Ein Ort, der dir vertraut ist und an dem du geradezu ein natürliches Aufenthaltsrecht hast.) Und tatsächlich wurde mein Vater, so wie ich es immer wieder mit ihm erlebt hatte, auch empfangen. Mit einem Ausdruck gleichmütiger Gelassenheit und gedämpfter Freude, so wie man jemanden begrüßt, den man schon oft gesehen hat und über dessen neuerlichen Besuch man sich nicht weiter wundert. »Dafür sind diese Menschen da«, pflegte mein Vater zu sagen. »Sie sind dafür da, mich zu begrüßen.« Er schreckte für gewöhnlich vor nichts zurück. Sei es nun das Betreten eines eigentlich zu teuren Hotels oder noch größere Herausforderungen. Obwohl er noch nie etwas Längeres geschrieben hatte, erzählte er mir eines Tages, er stünde kurz davor ein Stück für das Boulevardtheater fertigzustellen. In ein paar Tagen sei es fertig, behauptete er, und dann erklärte er mir ganz lang und breit, wie man ein Stück schreibt, das sich gut verkauft.
»Das sitze ich mit der linken Arschbacke ab«, sagte er.
»Was?«
»Das Stück.«
Ich wusste nicht genau, was er damit meinte, vielleicht war es auch einfach ein Ausdruck der Leichtigkeit, die ihm eigen war. Er habe es im Grunde schon geschrieben, sagte er. Viel sei nicht mehr zu machen.
»Aber Moment mal«, protestierte ich, »das hört sich komisch an. Wie soll das denn gehen? Du schreibst doch normalerweise gar nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte mein Vater. »Ich kann es ja auch auf Band sprechen, und irgendeine Tippse wird sich dann schon finden.«
»Du meinst eine Sekretärin soll das Stück schreiben?«
Darauf gab er keine Antwort mehr. Er war mit seinen Gedanken schon beim Abendessen oder seiner nächste Reise. Zu diesem Zeitpunkt war er schon pensioniert, was ihn aber nicht daran hinderte, mehrere Sachen auf einmal zu machen und nebenher immer wieder die exotischsten Einkommensquellen aufzutun. Und dann ging er die nächste Herausforderung an. Er machte sich auf den Weg. So wie immer. Er straffte sich etwas und dann betrat er die Hotels dieser Welt mit der Leichtigkeit eines Poeten, der so hereingestolpert kam und sich im letzten Moment den Anfang einer guten Geschichte ausdachte, die einfach unwiderstehlich war. Aufgerichtet, beinahe etwas übermäßig starr, in der Haltung eines Königs, der über Nacht etwas geschrumpft war, sich aber doch ganz gut auf den Beinen hielt, betrat er das Gebäude und lief in die Lobby hinein.
»Ist das hier das Palace Hotel?«, fragte ich, nachdem ich den ersten Stock hochgelaufen war, die Tür geöffnet hatte, eine weitere Treppe hochgestiegen war, um dann an einen Ort vollständiger Düsternis und Tristesse gelangt zu sein. Es war immer die Frage gewesen. Was suchte mein Vater in all diesen Hotels? War da heimlich ein Verdrängungsmechanismus am Werk? Eine Flucht? Flüchtete mein Vater vor seinen Alpträumen, seinen Kriegserlebnissen? Später, als er müde und erschöpft war und die guten und teuren Hotelzimmer umso dringender gebraucht hätte, konnte er sie sich nicht mehr leisten. Es war eine Ankunft, ein großer Auftritt und als wollte er den Verdrängungsprozess wieder ein bisschen relativieren, suchte er sich manchmal historisch wichtige Orte und besonders berühmte Hotels aus, vollgepackt mit Geschichte und Erinnerung. So als suchte er dann insgeheim doch noch nach Mitwissern und Zeugen. »Das ist das beste Haus am Ort«, war einer seiner liebsten Formulierungen. Oder: »Das erste Hotel am Ort. Ein renommiertes Haus... Das berühmteste Grandhotel der Welt... Egal, das bezahlen wir. Das gönnen wir uns.« Und dann lief er schon auf die Rezeption zu und wenn ich es richtig in Erinnerung habe, fragte er nicht etwa, ob noch etwas frei sei, sondern stützte sich am Empfangstresen auf und verlangte ohne große Einleitung das beste und größte Zimmer, und noch dazu mit der schönsten Aussicht. Ein bisschen zu verhandeln und den besten Preis herauszuholen, daran verschwendete er keinen Gedanken.
Das Palace war deprimierend. Der Besitzer empfing uns, wie es schien, in Unterhosen oder Schlafanzughosen, so genau wollte ich es gar nicht in Erfahrung bringen. Bereitwillig zeigte er uns ein Zimmer. Ich tat so, als käme eine Übernachtung unter bestimmten Bedingungen in Frage. »Dieses Mal fehlt uns allerdings etwas die Zeit«, erklärte ich. »Aber sicherlich dann beim nächsten Mal.« Die oberen Räume, erklärte der Besitzer, würden nicht genutzt. Die Belegung sei zu schlecht, es würde sich nicht lohnen. Für eine Weile hätten dort Flüchtlinge gewohnt, zu Bürgerkriegszeiten, aber die waren jetzt nicht mehr da. Überhaupt schon die Lobby: Sie war grauenvoll. Sie existierte eigentlich gar nicht mehr. Stattdessen hatten sie dort Klappbetten aufgestellt, auf denen die Gäste jetzt schliefen, weil sie es in den dunklen modrigen Hotelzimmern nicht aushielten, den Preis für die Räume nicht zahlen konnten oder doch gar keine Hotelgäste, sondern eben syrische Flüchtlinge waren, die das Hotel einfach in Beschlag genommen hatten, obwohl unser Führer, der Mann in den Schlafanzughosen, in der beigen, etwas fleckigen Unterwäsche zweifellos Libanese war, wie mir N. bestätigte. Unter der Decke aufgehängte Wäscheleinen mit feuchter düsterer Fracht kreuzten den Raum, wie Vorhänge, die für Diskretion sorgen sollten. Verweigerte sich mir dieser Ort? Verschloss er sich?
»Und wann fängt du mit dem Stück an?«, hatte ich damals meinen Vater gefragt.
»Der Anfang ist nicht das Problem«, hatte er geantwortet. »Es muss vor allem süffig sein. Fröhlich und heiter. Wie ein langer guter Witz.« Er erzählte mit großer Leidenschaft Witze, die die ganze Familie schon auswendig kannte, in denen er auf geradezu gewalttätige Art und Weise die Wirklichkeit ausblendete. Mir kam es so vor, dass diese Unterhaltung aus irgendwelchen Gründen im Keller stattfand und später, wenn ich den Keller betrat und den muffigen Plastikfaltschrank aus den 70ern und den alten Bauernschrank mit den billigen Intarsien sah, der noch von der Mutter meines Vaters stammte, schien es mir manchmal so, das Stück könne vielleicht hier irgendwo versteckt sein.
Als wir wieder im Wagen waren, spielte N. auf ihrem Kassettenrekorder Julio Iglesias. Es war eine alte Kassette mit Aufnahmen aus den späten 70ern. Ich saß hinten, während N. und S. sich vorne darüber unterhielten, ob wir nicht einen längeren Trip in die Berge unternehmen sollten, als hätten wir uns das jetzt nach dem Besuch im Palace verdient. Wir fuhren dann wirklich in die Berge, wo wir aber über einen Spaziergang nicht hinauskamen und ich schlief auf dem Rückweg, während Iglesias immer weiter sang, ein. Ab und zu wachte ich auf von dem Fahrtwind, der durch das nicht verschließbare Fenster drang. Ich erinnerte mich, dass Iglesias immer versuchte, seine rechte oder linke Gesichtshälfte zu verbergen, um auf Fotos nur seine gute und schöne Seite zu zeigen. Vielleicht hatte das mit dem schweren Unfall zu tun, infolgedessen er mit einem Jura-Studium begann, das er aber schon bald wieder abbrach. Für einen Augenblick hatte sich das Gesicht des Besitzers erhellt, während wir draußen auf dem Balkon standen, am Ende der Führung, als schon klar war, dass wir nie und nimmer als Gäste in Frage kamen. Das Gebäude hatte selbst heftigen Beschuss überlebt, erzählte der Besitzer. Er strich sanft über die Hauswand und das Balkongeländer, als wäre er stolz über die Schmerzen und das Leid, die das Gebäude hatte aushalten müssen. Die Narben, die es davongetragen hatte, während er jetzt unversehrt da stand. »Wir werden das alles von Grund auf renovieren«, sagte er feierlich. »Aber noch habe ich nicht entschieden wann.« So als habe das Gebäude noch ein Wort mitzureden und könne selbst über sein Schicksal entscheiden. Seine Schlafanzughosen nahmen im Tageslicht einen rosafarbenen Ton an, und er wurde insgesamt glaubwürdiger und seriöser. »Wir werden schon sehen«, sagte er und strahlte uns an. Er mochte N. Sie übersetzte meine Fragen und dann seine Antworten. Sie war eine gute Übersetzerin und es zeigte sich, dass sie sich sehr wohl zurücknehmen konnte. Beinahe demütig wirkte sie. War das Hotel ein therapeutischer Ort? Hatte dort auch mein Vater innegehalten, sich vergewissert, war in sich gekehrt? Entledigte er sich der Bilder, die er mit sich herumtrug und nicht mehr ertragen wollte? Der Hotelbesitzer zeigte uns die Einschusslöcher. Bei jedem Loch nickte er anerkennend. Es war der beste Moment, der Augenblick, indem man ihm ansah, wie stolz er war. Er mochte es, wie N., das was er sagte, in eine andere Sprache übertrug. Er mochte vielleicht, wie sie es in etwas ganz anderes verwandelte, in etwas, was ihm fremd war und das dem Ort, den er zu verwalten hatte, neues Leben einhauchte.
»Und wohin willst du gehen«, fragte ich N. später. »In welches Land?«
»Ich will einfach nur weg«, sagte sie und schaltete einen Gang zurück, während die Straße steil abfiel.
»Aber wohin denn?«, fragte ich noch einmal.
»Ich verlasse das Land«, sagte sie. »Ich muss. Es bleibt mir nichts anderes übrig.« Und dann drehte sie die Musik lauter. Julio Iglesias Stimme steigerte sich, die Anlage war nicht besonders gut, er krächzte beinahe in einem Moment der Übersteuerung. Mit einem Mal sang er nicht mehr, er schrie.
Es geht um das »Leichtmachen der Sprache«, schreibt Calvino in seinem Buch über die Literatur. Ein Leichtmachen, »bei dem die Bedeutungen so lang auf einem gleichsam schwerelosen verbalen Gewebe befördert werden, bis sie dieselbe verdünnte Konsistenz annehmen.« Ich hätte das meinem Vater vielleicht sagen sollen, wenn ich es damals schon gewusst hätte. Er hätte sein Stück schreiben können. Er hätte all den düsteren, unausgesprochenen, all den schweren Erlebnissen das Gewicht nehmen und sie in die Luft aufsteigen lassen können. Wunderbar wäre das gewesen. »Sie machen das ganz großartig«, hätte er zu N. gesagt. »Sie sind eine phantastische Autofahrerin, eine ganz reizende Übersetzerin und schließlich und endlich eine große Künstlerin, das sehe ich sofort.« Aber es hätte nichts geändert. N. wollte weg. Als Künstlerin stand N. in Tripoli auf verlorenem Posten. Wir fuhren weiter den Berg hinunter, auf dem Rückweg aus den Bergen. Wir fuhren in die Dunkelheit hinein, die Dunkelheit der sich überlagernden Erinnerungen und Eindrücke, den Erinnerungen an meinen Vater und den Phantasien über den Bürgerkrieg, der mich zu diesem Zeitpunkt noch so sehr interessierte. Das ganze komplexe Gewebe, das immer schwerer und undurchdringlicher wurde, bis ich gar nichts mehr dachte und in einen tiefen Schlaf sank, als läge ich schon auf einem dieser Feldbetten in der Lobby des Palace Hotels. Als hätte ich ein besonders gutes Angebot angenommen und einem Deal nicht mehr länger widerstehen können.