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Das letzte Haus

Im Adventskalender des S. Fischer Verlags veröffentlichen wir an vier Dezemberfreitagen jeweils eine weihnachtliche Geschichte. Zum Auftakt schreibt Tim Wolff, Autor der kurzen Menschheitsgeschichte »Best of Sapiens«, über einen arbeitsamen Architekten, an den ein seltsamer Auftrag herangetragen wird.

Tim Wolff, Autor von »Best of Sapiens«, schaut von oben in die Kamera. Er hat etwas längeres, mittelblondes Haar und einen Mehrtagebart.
© Sandra Wolff

Einst war da ein Mann. Unscheinbar war er, stets gehüllt in alte, meist schmutzige Kleider. Sein Gesicht lag in Falten, es hatte viel Wetter gesehen. Leicht gebückt ging er, trotz seines nicht allzu hohen Alters. Es dauerte jeden Morgen – er kannte kein Wochenende – bis er sein Gefährt erreichte, mit dem er zur Arbeit fuhr. Er besaß kein stolzes Ross, keine Kutsche, nur einen klapprigen Wagen mit einem nicht minder klapprigen Esel dazu. Mit diesem zog er beständig los, Tag für Tag, von Ort zu Ort. Er war ein begehrter Mann. Aber dabei stets bescheiden geblieben. Gottesfürchtig ist er, sagten die Leute, obwohl nie ein christliches Wort aus ihm kam. Er sprach überhaupt wenig, aber wenn er es tat, dann präzise. Worte waren ihm nur so gut, wie sie Taten folgen ließen.

Auch sein Haus war ganz ohne Ausschmückung oder gar Pracht, es war eher eine Hütte. Ein einziger Raum, erzeugt durch vier schmale Wände und einem modrigen Strohdach auf ihnen. Winzige Fenster erlaubten wenig Licht, das zu jeder Jahreszeit nur wenige Stunden, aber stets staubdurchtanzt auf faserige Holzmöbel fiel. In dieser kargen Behausung schliefen der Mann und sein Esel manche Nacht, jedoch nicht in jeder. Denn die beiden waren viel unterwegs. Schließlich war der Mann ein Architekt; der gefragteste, weil einzige, in der Region.

In jedem Dorf im Umkreis von bestimmt fünfzig Kilometern standen Häuser, die er entworfen und deren Bau er beaufsichtigt hatte. Einfache waren darunter, verwinkelte, mit runden oder eckigen Fenstern, verzierten Türen, manch wagemutiger Treppe und stets wuchtigen Schornsteinen. Denn das Feuer ist der wichtigste Gast in jedem Heim, sagte der Mann stets. Prächtige Häuser mit zwei Stockwerken und eigentümlichen Verzierungen schuf er, darunter Rathäuser und Kirchen. Alle möglichen Werkstoffe kannte und nutzte er. In den vielen Jahren seiner Tätigkeit hatte er gelernt, mit allem umzugehen. Und am Ende bekamen alle Auftraggeber das Gebäude, das sie sich gewünscht hätten. Und kein einziges sah auch nur annähernd so aus wie sein eigenes Zuhause. Sein Lohn war bescheiden, viel zum Leben benötigte er ja nicht. Er war, was er war, nur wenn er es für andere sein konnte. In seinen eigenen vier Wänden war er nichts.

Eines Abends, der Esel und sein Besitzer erholten sich von einigen Fahrten von Bau zu Bau in ihrem Heim, da klopfte es an der morschen Tür. Spät am Abend war es bereits. Eine Kerze flackerte einsam, geschützt von losen Brettern gegen den steten Durchzug. Der Esel schnaufte schwer. Der Mann machte keine Bewegung. Er war keinen Besuch gewöhnt. Alle, die ihn kannten, wussten, wie wenig Besuche bei ihm sich lohnten. In diesem kargen Haus, in dem sich selten Speisen fanden, die man Gästen reichen konnte, mit einem Gastgeber, der nur sprach, wenn es seiner Arbeit diente.

Mit dem nächsten Klopfen fiel die Tür weit auf. Man hätte meinen können, sie müsse unbedingt zersplittern, angesichts des Schwungs, mit dem sie aufbrach. Doch sie war genau so dünn und leicht wie die Wand, gegen die sie schlug. Tür und Wand taten sich nichts. Ein Schatten fiel in den Raum, obwohl die einzige Lichtquelle die Kerze war. Der Schatten ähnelte nicht der Person, die ihn warf. Auf dem Boden sah man ein dunkles, gekrümmtes Wesen, in der Tür eine aufrechte, seltsam fröhliche Frau.

Ich möchte ein Haus, rief sie. Der Architekt nickte kaum merklich. So schnell wie möglich, rief sie. Der Architekt blieb ungerührt. Tief im Wald, rief sie. Der Architekt bewegte keinen Muskel in seinem Gesicht. In Gedanken ging er aber durch die logistischen Herausforderungen, die ein Bau fern von Straßen und Wegen bedeutete; sein Hirn konnte nicht anders. Einen wuchtigen Schornstein soll es haben, rief sie. Dem Architekten huschte ein knappes Lächeln über das Gesicht. Und aus Pfefferkuchen soll es sein, rief es aus der Frau und ihrem Schatten zugleich. Aus Pfefferkuchen!

Da lachte der Architekt aus vollem Herzen. Er lachte so laut und entzückt, dass der Esel ihn nicht wiedererkannte. Aus Pfefferkuchen. Ein Haus. Mit wuchtigem Schornstein. Mitten im Wald. Tränen vor Lachen liefen dem Architekten die Wangen herab. Was wollte diese Frau? Kinder anlocken und braten, oder was? Der Architekt schlug sich auf die Schenkel.

Die Frau lachte nicht. Sie lächelte auch nicht. Sie hob eine Augenbraue. Plötzlich wurde der ganze Raum taghell. Der Schatten fuhr hinter die Frau. Gemeinsam schienen sie zu wachsen. Eine Riesin stand nun im morschen Türrahmen. Und sie schien näher an den Mann und seinen Esel zu rücken, obwohl sie nichts als die Augenbraue bewegt hatte. Der Esel sprang auf. Fiel aber im nächsten Moment wieder stöhnend zu Boden.

Ich möchte ein Haus aus Pfefferkuchen, mit wuchtigem Schornstein, mitten im Wald!

Die Stimme kam von überall. Dunkel, mächtig, hallend.

Der Architekt lachte nicht mehr. Sein Gesicht war wieder das alte. Und noch älter geworden.

Am nächsten Tag begann er mit dem Bau des gewünschten Hauses. Die Frau zeigte ihm die Stelle im Wald. Er steckte stumm die Maße für das Fundament ab. Wochen verbrachte er damit, mit einem Bäcker aus dem Dorf das Pfefferkuchenrezept zu finden, mit dem sich stabil ein Haus bauen ließe. Als sie eines hatten, bei dem nichts zu leicht brach, monierte die Frau den zu wenig süßen Geschmack. Wütend wurde sie. So dauerte es noch einmal Tage, bis der richtige Teig gefunden war. So ging es beinahe täglich zu. Bei allen Entscheidungen. Der Architekt nahm alles hin. Äußerlich.

Zuerst karrte der Esel alle Bauteile für einen Ofen in den Wald. So ließen sich später die Pfefferkuchenziegel direkt vor Ort brennen. Trotzdem dauerte es Monate, bis das Haus fertig wurde. Der Architekt, ganz gegen seine Natur, verzweifelte an allem. Besonders an den Wünschen der Frau. Und doch erfüllte er jeden.

Es war schon spät im Jahr, da übergab der Architekt der Frau endlich den Schlüssel. Hastig. Darauf setze er sich auf den Esel und schlich sich davon. Kein einziges Gebäude soll der Architekt danach noch gebaut haben. In seinem Haus war er auch nicht mehr gesehen. Es verfiel, ohne dass es auffiel.

Die Frau aber lachte, als der Architekt in sich gesackt davonritt. Aus vollem Herzen. Tränen vor Lachen liefen ihr die Wangen herab. Sie schlug sich auf die Schenkel.

Dann wurde es finster und auch so bitterkalt.

Tim Wolff, geboren 1978, ist Satiriker und Journalist. Von 2013 bis 2018 war er Chefredakteur der Satirezeitschrift »Titanic« und veröffentlichte Texte unter anderem im »Mannheimer Morgen«, der »taz«, für »Neues Deutschland« und »Konkret«. Heute ist er Autor für das ZDF Magazin Royal von Jan Böhmermann. Er lebt in Frankfurt am ...

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Eine kurze Geschichte der Menschheit von Tim Wolff

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