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Ein Brief von Bettina Böttinger

Liebe Silvia,

zweieinhalb Jahre haben wir uns nun nicht mehr gesehen. Seit Deinem Tod. Mir bleiben Erinnerungen. Ich habe so gerne mit Dir gelacht. Und mir immer vorgenommen, Dich während unserer beinahe täglichen Telefonate mindestens zweimal zum Lachen zu bringen.

Erinnerungen.

Und Deine Bücher.

In Deinem Roman »Nur Mut« gibt es Sätze, die Prophezeiungen gleichkommen. »Die Menschen sind erbärmliche Zauberlehrlinge, Zwerge auf der Flucht vor den eigenen Erfindungen: Noch wissen sie nicht wohin mit dem atomaren Müll, schon müssen sie sich vor der Machtübernahme der Automaten fürchten ...«  In diesem, Deinem vorletzten Roman, zerbricht die geordnete Welt von vier alten Damen, aber sie gehen nicht klanglos unter, sondern in einem Endzeit-Furioso.  Ein Zitat habe ich damals unterstrichen.  »Ich war ein Leben lang perfekt im Ausblenden von Bedrohlichkeiten jeder Art«, lässt Du eine der Betrogenen sagen. »Bitte kein Vulkanausbruch zu meinen Lebzeiten! Bitte erspart mir die Nachricht davon! Ich war eine idiotische Priesterin des positiven Denkens. Ich hatte meine intellektuelle Sehkraft um fünfzig Prozent gesenkt.« So dachten doch viele von uns! Das alles wird nicht gut ausgehen – aber bitte nach uns!

Dein Blick aber auf die Welt aber war immer unbestechlich und sezierend. Die Menschen würden sich schon zugrunde richten, und zwar bald. Diese Überzeugung wuchs in Dir. 

Und ich? Ich war auch so eine Idiotin, die Dir oft mit Aspekten des positiven Denkens kam. Habe doch tatsächlich an das Märchen eines weiterhin friedlichen Verlaufs meines Lebens und an sicheren Wohlstand geglaubt. Verluste meines Daseins spielten sich eher auf der Gefühlsebene ab. Verlorene Beziehungen, beendete Freundschaften, und ja, der Tod von geliebten Menschen. Du kennst diese Geschichten. 

Heute Morgen fuhr ich von Köln in die Eifel, wo ich mich vor den Menschen in Sicherheit bringe. Ja, Du liest richtig. Wir bringen uns gerade alle voreinander in Sicherheit. Ich, Rheinländerin und vom Naturell her kontaktfreudig, versuche, mich weitgehend zu isolieren, um nicht krank zu werden oder unwissentlich andere Menschen anzustecken. Ich kaufte auf dem Weg noch schnell einige Lebensmittel im Supermarkt, eine Maske vor Mund und Nase.  Ich fantasiere nicht, ich beschreibe Dir nur kurz, was hier gerade los ist. Corona, ein neues Virus, gibt den Takt der Menschheit an. Die Welt steht nicht ganz still, aber sie steht Kopf.

Am 4. März, dem Vorabend Deines Geburtstages, haben Martina, Susanne und ich auf Dich angestoßen. Wir waren noch ahnungslos, was auf uns zukommen würde.  Zwar waren im Januar die ersten Fälle von Corona in China bekannt geworden, aber das war doch so weit weg. Dass sich von Wuhan aus eine Pandemie ausbreiten würde, daran dachten wir im Traum nicht. 

Und nun ist alles sicher Geglaubte dahin, niemand weiß, was wie wann sein wird. 

So gerne würde ich mit Dir sprechen. In den Jahren unserer Freundschaft, die ich immer als ein Geschenk des Lebens an mich betrachtet habe, sprachen wir unzählige Male über diese merkwürdige Zeit, in der wir leben. Klar und vorausschauend sahst du die Menschheit auf eine Katastrophe zurollen. Weil alles längst aus dem Ruder gelaufen war. Weil alles zu viel geworden war. Der Kapitalismus, die Umweltverschmutzung, die soziale Ungerechtigkeit, die Maßlosigkeit der Menschen, die Menschen selber. Du hast Dich nicht täuschen lassen. »Die Zivilisationsdecke ist dünn.«  

Du wurdest mit den Jahren immer schärfer in Deiner Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Himmel, wenn wir heute gemeinsam die Nachrichten gucken würden! Du würdest die tumb tönenden Trumps, Bolsonaros, Johnsons hören, es wäre dann doch ein großer Spaß, Deine Kommentare zur männlichen Großmannssucht zu erleben. Die erbärmlichen Zauberlehrlinge ...

Ich weiß nicht, was Du zu den Bildern gesagt hättest, wie wir sie aus Bergamo sehen, wo das Militär die Toten abtransportiert, die wegen der hohen Zahl nicht beerdigt werden können. Italien, Dein Sehnsuchtsland, trägt Trauer. Auch in New York, der Stadt, die niemals schlief, spitzt sich die Lage zu. Gespenstisch. Mehr als 300.000 Menschen infiziert, mehr als 3600 gestorben. Die Zahlen explodieren täglich. Jede Leichtigkeit ist dahin. Und Trump, wie haben wir über den gelacht, ohne seine Gefährlichkeit zu verkennen, tönt unsinniges Zeug und erfreut sich leicht gestiegener Umfragewerte. China, Iran, Großbritannien, Indien, Thailand, überall versuchen die Menschen vor dem Covid-19-Virus zu fliehen, gegen das es noch kein Medikament, keinen Impfstoff gibt. Corona macht klar, was grenzenlos bedeutet.

Du konntest die Welt nicht bereisen, Deine Krankheit hielt Dich zurück. Eine Krankheit, gegen die Du nur Deinen unbedingten Willen einsetzen konntest.  Und doch hast Du die Welt und ihre Entwicklung so glasklar vor Augen gehabt und analysiert.

Ich habe dann doch immer gedacht, na, so schlimm wird es schon nicht werden. 

Es hat mich oft traurig gemacht, über die Schwere Deines Schicksals nachzudenken. Du hast auf Deiner Liegestatt mit Deinen Freundinnen und Freunden diskutiert. Immer hellwach, immer elegant, eine bildschöne Frau, die mit intellektueller Schärfe und nicht nachlassender Streitlust den Lauf der Welt kommentierte. Dabei warst Du schon mit 25 Jahren mit der Diagnose Multiple Sklerose konfrontiert.  Das hat Deinen Lebensweg geprägt, in den letzten Jahren hast Du Dich nur mühsam durch die Wohnung bewegt. Am Rollator, schleppend, aber mit aufrechter Haltung. Bei Dir herrschte Deine eigene krankheitsbedingte Ausgangsbeschränkung. Und ich galoppierte durch mein Leben und ignorierte Dein Rufen, ich solle doch einfach mal anhalten.

Jetzt wurde ich angehalten. Durch Covid-19. Dabei hatte ich schier unendliche Möglichkeiten gesehen.  Über mein Tempo waren wir sogar in Streit geraten, es war der einzige Streit zwischen uns in all den Jahren unserer Freundschaft.

Ich erzählte Dir, ich wolle für eine Woche nach Hongkong fliegen. Du warst Reisen in die außereuropäische Welt gegenüber sehr skeptisch. Auf Deine Frage, was ich denn da suche, antwortete ich provokant: die gute authentische Küche. Ich wolle mich eine Woche quer durch die Restaurants Hongkongs essen. Heute schäme ich mich dafür. Mal eben in den Flieger, mal eben in die sogenannte Fremde, die einem scheinbar vertraut ist. »DIE Fremde ist an sich nicht mehr DAS Fremde«, hast Du geschrieben, »sie ist nicht mehr mit Notwendigkeit fremd.«  Wir meinen, alles kaufen zu können. Meinten! Dieses Lebensgefühl, vieles einfach buchen zu können, um es zu erleben, hat mich oft getragen. Als Ausgleich für zu viel Arbeit. Und getäuscht, wie ich heute erkenne. Ja, Silvia, ich weiß, Du wirst jetzt antworten, besser spät als nie. Nun ist meine Sicherheit dahin. Die Selbstverständlichkeit, nächstes Jahr zum Jahreswechsel wieder wohin auch immer zu reisen. Jetzt kommt man nicht mal mehr nach Schleswig-Holstein. 

Manches ist trotz allem geradezu komisch. Heute las ich, dass die Menschen nun doch wieder der Kanzlerin vertrauen, die aus der Quarantäne zurück ist. Und von der manche meinen, sie soll doch nun für eine fünfte Amtszeit zur Verfügung stehen. Wir hätten uns schief gelacht! 

Schlimmer machen, schlimmer lachen – Dann aber würden wir wieder innehalten vor dem Schrecken, dass Ärztinnen und Ärzte entscheiden müssen, für wen sie die Beatmungsgeräte einsetzen, wen sie sterben lassen. 

Du bist nicht mehr hier. Ich denke an Dich und frage mich, was Du sagen würdest. Die PolitikerInnen versuchen, uns zu beruhigen, und werfen mit Geld nur so um sich, aber natürlich  wird es  trotzdem soziale Spannungen geben. Und Gewalt und Leid und Armut. 

Da stehe ich also mit meinem Optimismus. Welchem? Wie ist die menschliche Würde jetzt aufrecht zu halten? Wie kontrolliert bleiben und nicht verzagen, wenn möglicherweise die ersten unserer Lieben sterben? Ich denke an Deine strenge Ermahnung, immer erst die richtige Frage zu stellen, weil man sonst zu keiner richtigen Antwort kommen kann! Aber mir  fällt  diese Frage nicht ein und dann wird mir klar, dass dieser Covid-19 mir ganz neue Seiten an mir selbst gezeigt hat und den Wert der Erinnerung und der Freundschaft und dass vor allem ein Satz von Dir, der Du allen Grund hattest, an Deinen Krankheiten und den Folgen für Dein Leben, an Deinem Zorn über die Verblödung der Menschen und an dem fürchterlichen Durcheinander des Lebens zu verzweifeln, dass Du daran geglaubt hast, dass uns etwas hält , und dieser eine Satz von Dir war vielleicht der wichtigste in Deinem Leben und könnte der wichtigste auch in meinem sein, so ein einfacher, klarer, wahrer Satz: »Was mich hält in dieser Welt, ist die Liebe.« Und dieser Satz gilt immer. Zu allen Zeiten. Auch in Zeiten von Corona. 

Danke, Silvia.
Deine Bettina

 

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