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Ein Brief von Emilia von Senger

Emilia von Senger (1987) eröffnet im Herbst die Buchhandlung »She said«. Dort wird es ausschließlich Bücher von Autorinnen und queeren Autor*innen zu kaufen geben.

Liebe A., 

vor ein paar Tagen hatte ich einen schrecklichen Gedanken. Ich dachte, zum Glück bist Du schon gestorben, sonst könnte ich meine Angst um Dich in diesen Tagen nicht aushalten. Ich habe diesen Gedanken verschämt verdrängt, dann kam gestern ein neuer. Zum Glück bist Du schon gestorben, dachte ich, denn sonst hättest DU jetzt sehr große Angst. 

Du hattest Angst vor vielem, aber vor allem vor dem Alleinsein. Nachdem F. an Krebs gestorben ist, hast Du kaum eine Nacht alleine verbracht, warst immerzu unterwegs. Hast erst Tochter, dann Sohn besucht, bist später bei der Schwester und der Schwägerin untergekommen.

Du warst sehr groß für eine Frau Deiner Generation, über 1,80 Meter und hattest schon früh hellgraue Haare. Die waren immer tadellos geföhnt, wie auch der Rest Deiner Erscheinung tadellos war. Meine Freunde hatten anfangs Angst vor Dir; es konnte passieren, dass Du sie während des Essens in den Rücken gepikst hast: »Sitz gerade.« Gestrickte Pullover und selbstgebackene Plätzchen gab es bei Dir nicht, dafür Aprikosenmarmelade. 

Du hast uns nicht in den Arm genommen, und auch nicht mit uns gespielt, aber trotzdem warst Du verlässlich da. Du hast dich an Geburtstage erinnert und hast uns manchmal in die Wange gekniffen oder auf den Po geklopft, das war Deine Art, Zuneigung zu zeigen. Manchmal habe ich gemerkt, dass Du mich beobachtest. Ich glaube, Du hast etwas von Dir in mir erkannt. F. hat mir einmal gesagt: Sie liebt dich sehr, weißt du. 

Im letzten Sommer habe ich Dich in den Tagen vor Deinem Tod begleitet, Dich gewaschen und nachts im Bett alle paar Stunden umgedreht, damit Deine Haut nicht wund wird. So nah war ich Dir noch nie gekommen. Niemandem, wahrscheinlich. Du warst uns, mir und den anderen Helferinnen, ausgeliefert. Für uns war diese Momente wichtiger als für Dich. Wir durften uns gemeinsam von Dir verabschieden, gemeinsam weinen. Du bist gestorben, als wir mit den Hunden spazieren waren. L., der noch bei Dir war, sagte, Du hättest aus dem Fenster in die Felder geschaut und dann aufgehört zu atmen. Die Kinder haben Blumen gepflückt und sie überall um Dich aufs Bett gelegt. Ich habe zu J. gesagt, Du seist jetzt im Himmel. Eigentlich glaube ich nicht an den Himmel, aber was soll man einem Kind von fünf Jahren sagen. J. sagte daraufhin, wieso, sie liegt doch noch da.  

Würdest Du in diesen Tagen an COVID-19 sterben, könnten wir Dich nicht begleiten. Angehörige in Italien und überall auf der Welt dürfen nicht ins Krankenhaus, und auch nicht auf die Beerdigung, das wäre eine Menschenansammlung, also ein weiterer Infektionsherd. Die Nächsten müssen ihre Trauer alleine verarbeiten, in ihren Wohnungen, wie alles andere auch. Gerade in Momenten der Trauer fehlen die Worte, es braucht Umarmungen, Blicke, Nähe, Zeit. Skype oder Zoom sind kein guter Ersatz. 

Wir haben erst spät angefangen, miteinander zu reden, Du und ich. Im Sommer 2018 habe ich Dich einmal alleine besucht, wir waren sonst immer umringt von der Großfamilie. Du hast mir plötzlich erzählt, dass Du als junge Mutter, drei Töchter und der Hausbau in vier Jahren, F. und die Kinder einmal fast verlassen hättest. Du warst überfordert von der Situation. Erst ein eindringlicher Brief von F. hat Dich zurückgeholt. Bis heute weiß ich nicht, was in dem Brief stand. Du hast es mir nicht verraten. 

Ich würde jetzt gerne mit Dir skypen, mit neuen Technologien warst Du immer sehr schnell, hattest ein Tablett und ein Smartphone. Wir hätten bestimmt Angst vor dem Virus und den Auswirkungen auf unser Zusammenleben. Aber wahrscheinlich würden wir darüber nicht sprechen. Ich würde Dir erzählen, dass A. vermutlich bald krabbelt und Du würdest mir berichten, dass im Garten schon die ersten Blumen blühen.  

Ich vermisse Dich.
Deine E.

 

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