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Ein Brief von Eva von Redecker

Eva von Redecker, geboren 1982, hat in Kiel, Tübingen, Cambridge und Potsdam Philosophie studiert. Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität, wo sie als stellvertretende Direktorin das »Center for Humanities and Social Change« mit aufbaute. Sie arbeitet derzeit an ihrer Habilitation und ist freischaffend publizistisch tätig. Sie ist auf einem Biohof aufgewachsen und hat dort Erdbeeranbau, Direktvermarktung und Pferdezucht gelernt. Heute lebt sie wieder auf dem Land, in einer Wissenschafts- und Künstler*innenkolonie in Brandenburg.

Hallo mein Schatz,

ich habe jetzt Deinen neuen science-of-meaning podcast gehört und ich finde es unerträglich, das aus der fucking Ferne zu tun. Ich würde so wahnsinnig gern mit Dir im Caffè Olimpia sitzen und Dich ordentlich anschreien wegen all der Punkte, die ich anders sehe. Wieviel Spaß wir hätten! Wie schön Du anzusehen wärst, während Du überlegst, ob ich nur eine philosophische Meinung wiederhole oder es ernst meine. Und ich würde staunen, etwas fassungslos, wie Du Deinen Grat zwischen Spielerei und Größenwahn langspazierst. Himmel – »the meaning of meaning« – was denkst Du eigentlich wer Du bist und dass ich hier ohne Dich klarkäme. 

Der erste Punkt, also die Veranschaulichung dessen, was es heisst, mehr Dimensionen zu addieren als die, in denen wir normalerweise leben, scheint mir gut zu funktionieren. Es klappt, sich in dieses Bild einer Fußboden- und einer Wand-Kreatur reinzudenken, beide platt und zweidimensional, mit einer gemeinsamen Achse, aber in verschiedenen Ebenen. Aber meine Güte, es hat mein Herz gebrochen, mir die dermaßen getrennt vorzustellen. Große Erleichterung, dass sich dann am Ende die Koordinaten aufeinander abbilden lassen, aber da habe ich es dann auch nicht mehr richtig verstanden und bin also noch immer nicht vollkommen beruhigt. Und wie soll das überhaupt gehen, wenn sie nachher kommunizieren können, wie können sie dann vorher in dermaßen verschiedenen Ebenen leben?!? Ja, ich weiß, sie teilen die Fußleiste. Aber das reicht doch nicht, das bleibt doch inkommensurabel!

Mir scheint, Du überbetonst die Trennung und dadurch entsteht dann überhaupt das Problem, das Du löst – »How to get out of your semantic box?«. (Und so wunderschön löst: »the others are the outside of the box« – Das mag ich natürlich…) Aber wir sind doch in the first place nicht in getrennten boxes

Es macht mich fertig, dass ich einfach nicht kapiere, wie man überhaupt die Dimensionalität wechseln können soll. Nicht bei den zweidimensionalen Wand- und Boden-Wesen und nicht danach, wo man durch die Wand in einen anderen Raum gucken soll, der auch drei Dimensionen hat, aber drei andere. Holy shit. Wie stellst Du Dir das überhaupt vor? Siehst Du dazu Bilder, oder ist es mehr wie ein logischer Schluß?

Verrennst Du Dich nicht mit diesem Bild der separaten semantischen Räume in das, was unter Wittgensteins Privatsprachen-Argument fällt? Jetzt sagst Du vermutlich »fuck Wittgenstein!«, aber Du unterläufst doch Dein eigenes Bild der jeweiligen boxes im zweiten Gedankenexperiment. Ja, klar, wir kriegen beide separate Netze, wenn ich anfange ein Quadrat in weitere Quadrate zu unterteilen und Du auch. Aber der Konstruktionsmechanismus – Deine Anleitung zur Einteilung – das ist doch geteilt! Das gerade gewährt doch die Sprache, diesen gemeinsamen Vorstellungsraum, der uns vorausgeht, wie ein wohlwollendes Spinnenetz, in das sich unser Geist verheddert und dadurch verbindet. 

Tja. Und dann die Sache mit der dichterischen Imagination zum Schluß. Herrlich. Auch wenn ich ein bisschen neidisch werde und weiß, dass Du nicht an Lucy denkst (oder gar mich). Das ist für Robyn. Anyway. Fine. I wonder how she‘s doing.

Zum Thema Spinnenweben fällt mir noch ein, dass Pascale vorhat, eine riesige Spinnenwebe in ihrem Zimmer golden anzusprühen, ich dachte, das könnte Dir gefallen (vorausgesetzt, dass dort keine Spinne mehr wohnt und vielleicht lieber eine andere Farbe hätte). 

Nina malt weiter die Eingangshalle, aber sie scheint mir etwas verloren, wie eine Wandfigur der ihre Bodenfigur fehlt, so ganz ohne Dich. 

Matthias sitzt in der Scheune auf dem Fußboden und sortiert unermüdlich Gipskarton und Glaswolle auseinander, die ganze durchgekrachte Zwischendecke. Weißt Du was? Genau SO sieht das in meinem Kopf aus, wenn ich versuche, die beiden zweidimensionalen Flächenwesen zusammenzubringen. Keine Ableitungsfunktion, ein Kollaps.

Der Fischer-Verlag hat mich gefragt, ob sie einen Brief von mir haben können. Corona-Korrespondenz und so. Den hier kann ich nicht nehmen, sie würden das vermutlich – wie damals diese Essayistin – unnatürlich finden. Niemand führt solche Gespräche. Und ja, verdammt, es fühlt sich wirklich sehr unnatürlich an, weil Du mich weder unterbrichst noch mir einen zweiten Kaffee mit brioche con crema bestellst.

Ich hab heute pre-breakfast mit Lucy gemacht und wir hatten sehr viel Spaß dran, uns verschiedene Brief-Varianten vorzustellen. Vermutlich sollte ich Zeynep schreiben, erstens weil sie so cool ist und zweitens weil ich ja nun mein image als critical theorist ausbauen sollte. Aber Britta (die Nonne aus München, weißt Du?), wäre auch gut. Ich frage mich echt, wie‘s ihr geht, all die alten Schwestern und das Pflegeheim nebenan. Am allerbesten wären Punk-Postkarten für Iwona, zumal ohne Corona-Kitsch-Gefahr. Aber nachdem ich ihr jahrelang so selten antworte, würde sie mir sicher den Kopf abreißen, wenn ich mich nur melde, um dann damit im Internet zu posen. An Philipp v. S. habe ich auch gedacht, mir wär‘ nach einem Kondolenz-Brief jetzt wo die Gräfin Dohna gestorben ist. Aber dann läd‘ er mich ein und ich komm‘ mit einem Pferd wieder nach Haus‘.

Im echten Leben möchte ich mich bei Elisabeth melden und tatsächlich eine Collage für Iwona machen, eine grüne Meeresbucht. Sie hat meine Strand-Improvisation im Garten einen »inverted beach« genannt, mit dem Blau am Himmel statt in der See. Aber das geht nicht, der Himmel kommt ja zuerst. Die See spiegelt nur, spiegelt in Blau das eigentlich Unendliche. Wie wir mit der Sprache.

Ej, ich vermiss Dich so wahnsinnig. Es macht alles keinen Sinn. Oder vielleicht: Alles macht viel zu viel Sinn, viel zu glatt, ich werd‘ nicht alle zehn Minuten aus meiner Box gerüttelt und das tut mir nicht gut. Und Dich da in der engen Wohnung zu wissen mit kompletter Ausgangssperre und mit dem Schimmel an der Wand… Obwohl Du die Grotte ja tapfer verwandelst, in eine paper-factory und ein broadcasting studio

Hab‘ ich überhaupt erwähnt, wie gut ich den Podcast finde? Ich liebe ihn so sehr. Da ist Deine Stimme drin.

Nur noch ein paar Wochen, hoffentlich,

DeinE

PS: Scheißgrenzen. Das zumindest wussten wir vorher auch schon.

Der Podcast zum Nachhören: https://aurelieherbelot.net/podcast/

 

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