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Ein Brief von Hans Jürgen Balmes

Hans Jürgen Balmes ist Editor-at-Large bei S. Fischer.

Drei Briefe an Ranjit Hoskote / The Letters to Ranjit Hoskote

 

Dear Ranjit,

in diesem Jahr fühlt sich der Frühling neutral an. Es ist sonnig, aber kalt, die ersten Zugvögel kamen bereits Ende Januar, dann kam der Regen und die ersten Covid-19-Fälle in Norditalien und München: Plötzlich war eine Realität, die in China Menschenleben forderte, auf unseren Straßen unterwegs. Aber es dauerte vier weitere Wochen, bis die Realität vor unserer Türschwelle erschien – und wir dahinter blieben. Es ist die dritte Woche unserer Isolation, die sich wie ein verlängertes und nochmal verlängertes Wochenende anfühlt. Das eigene Land wird einem auf eine vertraute Weise fremd – und das war zu Beginn aufregend, so wie Ferien in einem Land, in dem man die Währung nicht versteht. Inzwischen haben wir begriffen, dass dieses Nicht-Verstehen eine Inflation der Bedeutung vorantreibt und alles an Wert verliert.

In dich selbst zurückgefaltet, versteckst du dich vor mir.
Den ganzen Tag suchte ich nach dir,
und als ich dich, verborgen in mir, fand,
spielte ich wild ungestüm bald mich, bald dich.

Lal Dêd

 

Dear Ranjit,

heute las ich in Deinen Übersetzungen, den Vakhs. Ich stellte mir vor, wie Du früher mit Deinen Notizbüchern voll angefangener Glossare und Anmerkungen in Überlandbussen nach Kaschmir gefahren bist, um der von Dir übertragenen Lal Dêd näher zu sein: eine auf Kaschmiri schreibende Mystikerin des 14. Jahrhunderts, in deren Blick Allah und Shiva verschmolzen. Eine Zeitgenossin von Petrarca und Simone Martini.

Vor einigen Wochen wurden Muslime in Indien überall auf den Straßen von Hindu-Nationalisten mit Dachlatten zusammengeschlagen. Ein Arzt sagte, er konnte die Wunden nicht mehr nähen, weil ihm ständig Tränen in die Augen traten. Jetzt stehen Tausende, vielleicht Millionen von Arbeitern und Tagelöhnen an den Bushaltestellen, an denen Du mit Lal Dêd gewartet hattest, um vor dem Lockdown zurück aufs Land zu kommen. Andere sind mit ihren Familien zu Fuß unterwegs, sie müssen Schikanen erdulden, sich hüpfend fortbewegen, wie es freiwillig nur Pilger mit ihren Niederwerfungen tun. Wie Viehherden werden sie mit Desinfektionsmitteln besprüht. Nimm Dein Grab und geh, scheinen die Hindu ihnen nachzurufen.

Was ich nachts aus Deinem Land im Twitter-Feed lese, ist absolut unvorstellbar: Unruhen, Morde, Vertreibungen. In unserer so behüteten wie hysterischen Welt schlugen sich Menschen im Supermarkt um Klopapier; nur für jemanden, der die Deutschen nicht kennt, ist das unvorstellbar

Ich zerstieß mein Herz im Mörser der Liebe,
briet es, verzehrte es ganz und gar.
Ich blieb ruhig, aber du kannst wetten, es war mir nicht klar,
würde ich leben, würde ich sterben?

Lal Dêd

 

Dear Ranjit,

letzte Nacht las ich auf Twitter Deinen Text über »Die Verkündigung« von Fra Angelico, davon, wie in dem Bild der zarte Moment gefasst ist, in dem sich die freudige Botschaft von der Geburt ihres Sohnes und die Prophezeiung von dessen Leiden und Tod berühren. Es gibt die Chance auf diese Zärtlichkeit, scheinen Deine Worte zwischen all dem Leid zu sagen. Es gibt sie. Gut Nacht.

Was wir in unseren Träumen machen, fragst du mich,
aber zwischen Erinnerung und Traum, zwischen jetzt und damals
kann ich nicht unterscheiden. In diesem Dunkel verschleißt Schlaf
mein Ohr. Deine Stimme vernehme ich nie.

Nancy Campbell

 

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