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Ein Brief von Jan Faktor

Jan Faktor, 1951 in Prag geboren. Studium der EDV abgebrochen. Verschiedene Arbeitsverhältnisse in Prag und in der Slowakei. Fernstudium. In Prag als Programmierer tätig. 1978 Übersiedlung zu seiner Frau nach Ostberlin. Arbeit als Kindergärtner, Schlosser, Übersetzer. Bis 1989 fast ausschließlich in der alternativen Literaturszene engagiert. Jan Faktors experimentelle Texte aus dieser Zeit erschienen 1989 in einem Band beim Aufbau Verlag. 1989 wurde Faktor Mitglied des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie. In den 90er Jahren brachte der Verlag Gerhard Wolf Januspress seine Arbeiten heraus. Für einen Ausschnitt aus seinem bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen großen Gesellschafts- und Entwicklungsroman Roman »Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag« erhielt er 2005 den Alfred-Döblin-Preis.

(Liebe Kinder, gebt fein Acht, Rammstein besucht euch heute Nacht)

 

Lieber Oliver,

es gibt zwei Arten von Prosalesern – an diesem Punkt sind wir uns, glaube ich, einig: Den einen sind die in den Romanen genannten Fakten egal, die anderen können es absolut nicht ertragen, mit frei erfundenem Faktenmüll abgespeist zu werden. Du musst da als Lektor etwas toleranter sein, ich persönlich bin nur mit den Letztgenannten bereit, mich auf längere Gespräche über Literatur einzulassen. Fakten sind Fakten, ein Eitermeer ist ein Eitermeer und Fiction kann mir trotzdem nicht verrückt und abseitig genug sein. In dieser holprigen Aufzählung steckt für mich kein Widerspruch. Wenn ich die guten alten Russen lese, will ich mir doch sicher sein, über das zaristische Russland auch in der Kleinzeichnung etwas zu erfahren – bei der Nennung von Entfernungen in Wersten oder, von mir aus, was die Anzahl der Knöpfe an irgendwelchen Uniformen angeht –, also über Dinge, für die sich auch jeder kundige Russlandkenner verbürgen würde.

Ich bin seit etwa drei Wochen zurück aus Frankreich (ist meine Karte aus Nimes überhaupt angekommen?) – und nur dank Nimes bin ich jetzt doch bereit, den von Dir gewünschten Brief zu schreiben. Allerdings nicht an irgendeinen imdunstkreisvoncoronageschädigten Menschen, sondern einfach an Dich persönlich. Wenigstens weiß ich jetzt, lieber Oliver aus dem Stamme Höflich, wie Deine Mails klingen, wenn Du (egal wie ausrufezeichenlos) wütend bist. Was wir damals in der »Rammarena« erlebt haben, war wirklich unbeschreiblich. Nebenbei noch: Nie wieder ein derartig matschiges Softeis im Sommer! So übel wie damals fühlte ich mich seitdem nur noch einmal – es war vier Jahre später, also 2009, als ich in einem easyjet-Flieger eine ordentliche Portion (höchstwahrscheinlich) Schweinegrippeviren abbekommen hatte.

Dass ich gerade ausgerechnet in Nimes war, hängt mit dem gleich oben im ersten Satz angerissenen Thema zusammen: Ist in fiktiver Prosa auch schlichtes Nichtwissen, jedes schlampige Knapp-Daneben-Greifen und jedes Istdochallessowiesofreierfunden erlaubt? Die Reise hatte ich schon seit einem Jahr vor mir hergeschoben, irgendwann musste ich dieses kleine, trotzdem wichtige Recherchedesideratum aber endlich abhaken. Und ich habe es zum Glück gerade noch geschafft, über die Grenze zu kommen. In dem Text, an dem ich seit zwei Jahren arbeite, geht es wieder – wenn auch nur am Rande – um den tschechischen nach-68er Underground. Und ich wollte an einer Stelle erzählen, um wie viel brutaler es in Prag zuging als im gemütlichen Ostberlin der 70er und 80er Jahre. Um es ganz konkret und möglichst knapp zu halten, wollte ich einfach aufzählen, was für Brutalitäten sich die tschechische Polizei und die Stasi damals geleistet hatten, wenn sie ihre langhaarigen Gegner, also die sich frech vermehrenden jungen Staatsfeinde, einschüchtern wollten. Die Hemmschwelle war bei den Schlägern ziemlich niedrig, irgendwelche Disziplinarverfahren mussten sie nicht befürchten; und sie schlugen, folterten und warfen die Leute nachts irgendwo aus ihren Autos, wenn das alles noch nicht genug war. Die älteren Dissidenten wurden zwar verhört, aus ihren Berufen katapultiert, bei Bedarf auch eingeknastet, sie wurden aber nicht unbedingt verprügelt. Der Name Charlie S. sagt Dir wahrscheinlich nichts: Ein Liedermacher, der die Staatsorgane besonders durch seine politische Direktheit provozierte. Und Charlie hatten die Stasileute sogar bei ihm zu Hause – so habe ich mir das jedenfalls gemerkt – mit Stecknadeln malträtiert, ihm die Nadeln unter die Fingernägel geschoben. Charlie lebt heute vorwiegend bei Nimes und lehnt es seit Jahren ab, über diese Szenen zu reden. Und in Prag war darüber leider nichts mehr zu erfahren, obwohl ich ein halbes Dutzend Leute aus seinem Umkreis angeschrieben oder befragt hatte. Und in den Büchern über den Underground wird über die vielen Verhöre und Drangsalierungen berichtet, über Charlie allerdings nichts Konkretes. Seine Folterer kamen trotz etlicher Verzögerungsversuche mehr als zwanzig Jahre nach 1989 schließlich doch noch vor Gericht, und für Charlie war die Sache damit abgeschlossen. In seinem letzten Interview sagte er dann: »Wenn einer wissen will, was sie mit mir gemacht haben, soll er mich besuchen. Dann soll er aber bitte mindestens zwei Kilo Mehl für Knödel mitbringen. Mit dem feingemahlenem Zeug von hier geht das nicht.«

Du bist, lieber Oliver, ein Spitzenlektor, und inzwischen sicher schon etwas ungeduldig. Aber keine Angst: Ich weiß, dass es hier um die Coronaproblematik gehen soll. Du hast es in Deinem Aufruf laut genug hinausposaunt. Dass Du Ausrufezeichen nicht magst, wundert mich nicht, dieser Brief enthält zum Glück nur drei davon. Mich persönlich ärgern dagegen viel mehr die so künstlich-klug daherschleimenden Fragezeichen, rhetorische Fragen und die dazugehörenden vorgestanzten Antworten ... Der nächste Satz kommt ohne ein Fragezeichen allerdings nicht aus: Warum sollte ich im Zusammenhang mit der Coronadämmerung beispielsweise nicht etwas über RAMMSTEIN schreiben? Ich erinnere mich noch zu gut an unseren kleinen Streit, bevor uns beiden schlecht wurde. Vielleicht weißt Du es nicht mehr, Du hattest mindestens die dreifache Menge der Softeiskeime zu verdauen wie ich ... (drei Punkte am Satzende – auch nicht der Hit, ich weiß; von den grundsätzlich immer nur störenden Klammertexten, spreche ich lieber gar nicht).

Im Kern ging es uns 2005 doch um die Frage, wieso dieses wunderbare Nimes, dieser kollektive Glücksfuror in der Arena, diese ganze Sommerfreude so glatt und knirschenlos zu dem apokalyptischen Donnergebrüll von Rammstein passen. Da ich ein bisschen älter bin als Du und meine Mutter in Auschwitz war, hatte ich einige bessere Hammerargumente zur Hand. Dafür hast Du in Südamerika mehr Elend ganz real mit Deinen eigenen Augen gesehen. Im Grunde waren wir uns aber einig: Apokalypse ist Alltag, Genozide waren schon immer eine Option und den erschreckenden Ritt durch die Obszönitäts- und Gewaltgeschichte unserer Zivilisation von Hans Peter Duerr kennen wir beide. So gesehen liegen Staub und Asche der Vernichtung unter jedem einfachen Feldstein begraben – dazu muss niemand nach Auschwitz fahren. »Hier wird es gut sein«, mit diesen Worten tröstete meine Großmutter ihre beiden Töchter beim ersten Blick aus dem Viehwaggon an der Rampe von Auschwitz. Sie war ein optimistischer Mensch und interpretierte ihre ersten Eindrücke etwas voreilig und einfach falsch.

Falsch, verfälschend oder unecht war die Rammsteinmusik in der antiken, mit allerlei High-Tech vollgestopften Arena natürlich nicht, genauso wenig falsch ist sie in der jetzigen Schockstarre. Und die ganz aktuelle Frage lautet für mich außerdem: Welche Musik gehört am besten zu der aktuellen Bedrohung und unserer dazugehörigen Gefühlslage? Welche Art des High-Gain-Jaulens unterläuft unser Bewusstsein und beschießt unser limbisches System am effektivsten? Welche Disharmonien regen die Resonanzen in unserer Amygdala am stärksten an? Die Frage ist relativ einfach zu beantworten: Es gibt nur eine Band, die mit Recht sagen kann, nicht nur zufälligerweise in diesen Monaten, sondern seit einem Vierteljahrhundert keine andere Musik gedacht, kreiert und gemacht zu haben als diejenige, die zu unserer, längst schon in etlichen Schieflagen hinkenden Zivilisation passt: eben RAMMSTEIN. Rammstein hat von Anfang an in einem permanenten Krisenmodus gelebt, sich schöpferisch an allen relevanten Aspekten des zivilisatorischen Untergangs abgearbeitet und die Sünden des Menschengeschlechts außerdem in ganzen Batterien von Petrischalen kontinuierlich zum Reifen zu bringen gewusst. Und damit im Grunde diesem ganzen, sich beschleunigenden Marasmus vorab ein völkerschachtdenkmalgroßes modriges, im Inneren auch noch weiter gärendes und mutierendes Monument errichtet. Keine andere Band als Rammstein kann von sich behaupten, den irrepochenden Puls der Zeit nicht ignoriert zu haben – das heißt: Nicht adäquat mitgemischt und mitgeschäumt zu haben. WEITER WEITER INS VERDERBEN / WIR MÜSSEN LEBEN BIS WIR STERBEN, sang Till Lindemann auf dem Album »Reise Reise« von 2004. Und die düstere Grundstimmung, die Mitte der 90er Jahre auch David Lynch so beeindruckt hatte, hörte sich nicht viel anders an: UND AUF DER MATTE FAULT EIN JUNGER LEIB / WO DAS SCHICKSAL SEINE PUPPEN LENKT / FÜR DIE SELBE SACHE UND DAS ALTE LEID / WEISS ICH ENDLICH HIER WIRD NICHTS VERSCHENKT.

Nun kann ich es, lieber Oliver, als ein Geschenk des Himmels bezeichnen, dass ich vor kurzem eine noch nicht publizierte Arbeit einsehen durfte, die sich ausgerechnet mit Rammstein beschäftigt. Und meine Überraschung war riesengroß: Ich persönlich wäre nicht annähernd in der Lage, über Rammstein etwas Genaueres, Überzeugenderes oder Treffenderes zu Stande zu bringen. Die Arbeit stammt von dem bekannten Germanistikprofessor Klaus Ramm. Ich bin mit ihm – dank der in Bielefeld jedes Jahr stattfindenden Colloquien – seit vielen Jahren befreundet und darf hier mit seiner Zustimmung aus seinem wunderbaren Text alles zitieren, was ich möchte. Und ich werde Klaus‘ Großzügigkeit im Folgenden sicher hemmungslos ausnutzen. Eins soll ich aber unbedingt voranstellen: Der Text wurde von ihm in voller Länge immer noch nicht wirklich freigegeben; auf die von mir zitierten Stellen darf also ungefragt in keinem anderen Werk, vor allem in keiner Publikation mit wissenschaftlichem Anspruch, verwiesen werden.

Im gesamten Schaffen der Band Rammstein verbinden sich – schreibt an einer Stelle Prof. Ramm – engelhafte Reinheit mit zirkusartigem Rabiatentum, zarte Verzweiflung mit monumentaler Großgrausamkeit, tribalistische Tiertriebausbrüche mit kotzorgastischem Jubel. Und hat sich schon jemand – fragt Prof. Ramm an einer anderen Stelle – Gedanken über das äußerst lebensfrohe Gitarrensolo gemacht, das ausgerechnet gegen Ende des Feuerinferno/Blutgerinn/Menschenfleischbrandgeruch-Songs »Rammstein« plötzlich ausbricht – und erst nachträglich ins angezerrte Gitarrengejaule und quälende Fuzzygequake übergeht? Oder beispielsweise über die jubelnden, das Phönixdasein bejahenden Chorstimmen im Song »Du hast« nachgedacht? Diese Ausbrüche von Freude – auch in »Ich tu dir weh« – müsste man kontextual eigentlich als befremdlich, widersprüchlich oder gar als unpassend empfinden. Man tut es aber nicht, da sich die Brustkorb-Massagekunst von Rammstein niemals auf Düsterkeit, Nebelschwadenschwere oder pure Nierensteinkolik-Bedrücktheit wird reduzieren lassen. Wohin sollte man dann aber die zarten, in den Rammsongs regelmäßig emporsteigenden und grundsätzlich in Dur gehaltenen Himmelsklänge überhaupt einordnen? Und was eigentlich um Rammes Willen mit ihrer hochgefühligen Steigerung anfangen? Damit werden sich hoffentlich noch spätere Forschergenerationen – also jüngere Menschen – befassen. Selbstverständlich gibt es schon – schreibt weiter Prof. Ramm – etliche Arbeiten zum Thema Rammstein und Humor, den Autor dieser Zeilen bedrängt allerdings eher eine andere Frage: Wo genau wurzelt die Unbedingtheit, Dringlichkeit, Versengtsauheit (hurtig, hurtig, liebe Kinder – die Propheten werden bald gegrillt …{1}) der Rammstein-Musik? Nehmen wir den Song »Wollt ihr das Bett in Flammen sehen«. Hier dreschen alle Musiker an einer Stelle wiederholt {2} zwei ganze Takte lang im sturen Achtelrausch auf ihre Instrumente ein – ohne eine Zäsur, eine Synkope, ohne eine Andeutung (doch eine kleine – von Herrn Schneider, am Ende des zweiten Takts) eines egal wie gearteten rhythmischen Variationswillens; einfach wie besengte Säue, möchte man meinen. Dies kündigt sich sowieso schon in dem ganze sechzehn Takte langen Schlagzeugintro an – genau gesagt während des langen crescendos, in dem acht Takte lang, und zwar in den Takten 8 bis 16, vierundsechzig sture Achtelschläge abgegeben werden. Und wiederbelebt wird dieses gnadenlose Prügeln im »Rammlied« auf einem viel später (2009) produzierten Album. Herr Schneider gibt hier im Mittelteil des Intros zwei Takte lang sogar sechs sture Schläge auf eine Zeit ab (jeweils also zwei ununterscheidbare Triolen hintereinander) – und kommt hier in nur zwei Takten dazu, achtundvierzig Mal zuzuschlagen. Und somit – aber aus vielen anderen Gründen – fühle ich mich voller Brustmut berechtigt zu fragen: Von wo genau beziehen diese Musiker ihre robusteroiden Synergien? In welchem Labor lassen sie ihre explosiven Hormone synthetisieren, ihre Mitochondrien regenerieren, ihr zelleigenes Adenosintriphosphat anreichern? Dabei brachten diese Wuchtwuchtler ihre unsanfte Art des Rasens schon auf ihrem ersten Album zur Perfektion, das nicht zufällig mit dem Song »Wollt ihr das Bett in Flammen sehen« beginnt. Die soeben aufgeworfenen Fragen müsste ein Mann meiner Körpergröße (192 cm, jedenfalls einst in der Jugend) in der Lage sein zu beantworten, denke ich. Ein Versuch: Die Rammsteinmusik ist tatsächlich in der Lage, Tote zu neuem Leben zu erwecken. Die Rammenergie ist eine dezidiert geschichtsträchtige, und sie speist sich aus kryptischem Urwissen und wird angeblich irgendwo in der Nordsee auf fünfbeinigen Bohrinseln an die Oberfläche geholt. Die Zeitfenster, in denen die hier zu beschreibenden Energiedurchbrüche jeweils möglich sind, sind allerdings voller kurzgeschlossener Zeitzünder, und das Taktmaß hat in vielen Songs etwas schwer Erträgliches, Einpeitschendes, Gnadenloses – und wegen der vielen disharmonischen Beigaben wird oft die eine oder andere Hörerzahnwurzel mit vollkommen betäubungsresistentem Schmerz bestraft. Nur eine Einstimmungsprobe auf vorerst rein textueller Ebene: Wenn auf dem feuchten Humusboden eine hodenholde Bohne keimt, quillt, schrillt und sich aufbäumt, und in unmittelbarer Nachbarschaft verrenkte Wesen auf einer Matte choreographisch gelenkt, bedrängt oder beleckt werden, kann es gar nichts mehr zum Vergeben oder Verschenken geben. Das alte Leid hat sowieso längst auch junge Leiber befallen – versengten Herzens, kranken Gehirns, blassen Gestirns. Und im Vollrausch dieses Hauens und Stechens aller auf Erden existierenden, also pausenlos auch verdauenden, schleimenden, schwitzenden Organismen, betritt Rammstein – der Name ist Programm – eine riesige Bühne aus Kruppstahl und beginnt zu lärmen. Und während dieser dort ablaufenden Feststoffsublimation, unter Hochdruck der reproduzierten Unausweichlichkeit, im lachenden Orkanauge diverser Induktionsbogen, inmitten eines irren Hochleistungswiederbelebungsrituals scheinen dann tatsächlich durch dichte Nebelschwaden plötzlich reihenweise chlorgas-vergiftete Soldaten des Ersten Weltkriegs aus ihren Schützengräben zu steigen, über die Leichen der jugendlichen Flakhelfer des Zweiten zu schreiten und sich um ein Gespräch mit KZ-Muselmännern oder halb erblindeten GULAG-Häftlingen zu bemühen.

Zu diesem Immer-wieder-Aufstehen und Weitermachen gehört selbstverständlich viel Kraft. Als ehemaliger Leistungsschwimmer besitzt Till Lindemann rein physisch genug davon, er lässt uns aber immer wieder auch akustisch spüren, wieviel Kraft er besitzt. Nur ganz kurz und ganz ehrlich gefragt: Hat in der deutschen Rockgeschichte jemand schon so absolut und drachentötend das einsilbige Verneinungswörtchen NEIN ausgestoßen – wie es Lindemann im Song »Du hast« tut?

An einer anderen Stelle beschäftigt sich Prof. Ramm mit dem Rätsel, wieso die Musik von Rammstein gleichermaßen ein intellektuelles, wie auch bildungsferneres Publikum anspricht: Wie kraftvoll und monumental die Band Rammstein gleichzeitig das Leben und die Freude am Leben zu sein besingt, ist der nächste Punkt, an dem man von Einmaligkeit der Leistung dieses Männerverbunds sprechen muss. Wenn ich mir erlauben dürfte, für das Treiben von Rammstein ein optisch sprechendes Bild zu entwerfen, würde ich versuchsweise das folgende wählen: Diese Menschenkinder beziehen ihre Position auf einem koagulierten Klumpen aus geronnenem Blut, schaukeln wie auf einem Floß mitten im Morast aus gärendem Eiter und bejubeln – egal ob angeleint, angeschirrt oder angekettet – die Existenz alles Lebendigen, einfach des Lebens an sich. Und sie tun dies dann auch noch während ihres eigenen Untergangs. Zur Verstärkung setzen sie zusätzlich immer wieder die bereits angesprochenen himmlischen Töne oder stimmähnlichen Klänge von ungeahnter Sanftheit ein, wie in den Songs »Feuer frei« (gewagt), »Links 2 3 4«, »Mann gegen Mann« (ebenfalls gewagt) oder »Sonne«. Logischerweise fehlen dieser Musik – und das ist vielleicht ihr Hauptmerkmal – absolut alle Restspuren jedweder Harmlosigkeit.

Hier stellt sich allerdings noch eine durchaus berechtigte Frage: Was ist der tiefere Sinn dieses rammeigenen Jubelns? Was ist das Geheimnis dieser typischen und wiederholt zwischengeschalteten Freude, dieses Auffahrens in solch schwindelhohe Stimmungslagen? Die Antwort liegt für mich auf der Hand: Es wäre würdelos, sich mit dem eigenen Ende zu befassen und dies wie ein lappenweicher Jammerdümmling zu vollziehen. Wenn man schon mal die Konstanten und Variablen des Untergangs beorgelt, alle möglichen Abarten des Zerfalls besingt, die Wundbrände beackert, die jede organische Lebendmasse irgendwann befallen werden, und auch jedes schlichte, oft aber tödlich endende Schwerenötertum des Menschen auf die Bühne zerrt, muss man es einfach unbedingt flammend und mit Freude tun. Überwinden heißt doch feiern! Das war schon immer so und so ist es Brauch.

Soweit erstmal Klaus Ramm. Natürlich beschäftigt er sich außerdem ausführlich mit den Elementen und Techniken der konkreten Poesie, die sich in den Texten von Rammstein zahlreich finden lassen. Diese Passagen seiner Arbeit würden den Charakter dieses Textes, der nun mal so etwas wie ein Brief sein soll, leider schwer rammponieren. Schade! Schade, dass sich die vielen Zitate und weiterführende Verweise hier nicht unterbringen lassen. Ausgerechnet Textanalysen experimenteller Texte sind Klaus Ramms Spezialität. 

Wird das Leben auf Erden, lieber Oliver, nach der akuten, aktuellen, irgendwann sicher auch akkurat erforschten Corona-Pandemie wieder das gleiche sein wie früher? Die Texte von Rammstein enthalten, wir beide wissen das, nicht nur viele richtig gestellte Fragen, sondern auch einige verblüffend passende Antworten. Und wir zitieren aus den Texten von Rammstein nebenbei auch am Telefon ganz gern, spielen auf sie an – und sind außerdem einfach oft nur glücklich, dass es diese Musik gibt. Überwinden heißt doch feiern … Wir beide haben irgendwann mal auch in Ruhe über die Widersprüchlichkeit der Texte gesprochen. In Herzeleid werden beispielsweise zuerst die Zeilen BEWAHRET EINANDER VOR HERZELEID / DENN KURZ IST DIE ZEIT DIE IHR BEISAMMEN SEID zerhäckselt, am Ende dagegen die folgende Zeile trockenbitter hinausgesilbt: BEWAHRET EINANDER VOR DER ZWEISAMKEIT. Von derartigen Beispielen gibt es in den Texten aber eine ganze Menge.

1995 oder 2001 konnte niemand von den Konsequenzen der heutigen Kontaktsperren, Ausgehverboten oder Quarantänen etwas gewusst haben, wenn mich nicht alles täuscht. Höchstens einige beherzte Propheten aus der Hölle, deren Sechskammerfeuer bekanntlich nie erlischt. Warum wird ausgerechnet einer GETADELT, DER SCHMERZEN KENNT, fragte ich mich manchmal kurz. Ich habe daran aber nicht weiter herumgerüttelt, dieses rammige Kruppstahlzirpen verstand sich einfach von selbst. Viel näher war mir sowieso – Dir möglicherweise auch – der Vers GEADELT IST, WER SCHMERZEN KENNT. Da die Rammsteinis aber offenbar immer schon weitergedacht haben, wird sich die zivilisierte Erdbevölkerung eines Tages vielleicht eher mit der dritten Variante dieses Verses aus Feuer frei beschäftigen müssen: GEFÄHRLICH IST, WER SCHMERZEN KENNT. Oder auch nicht, lieber Oliver. Bleiben wir lieber optimistisch und versuchen vielmehr, weiter Kraft durch Musikfreude zu verbreiten. Wie die lachenden und stark transpirierenden Mädchen auf den Rängen hinter uns, denen beim Wippen, Tanzen und Recken dauernd die Brüste aus ihren T-Shirts rutschten. Und die voller Freude und mit strahlenden Gesichtern sangen: FEUER FREI … BANG BANG.

Liebe Grüße   
Dein Jan

P.S. Das Ergebnis meiner Nimes-Recherche zur Foltermethoden des tschechischen Geheimdienstes: Die beiden Stasileute haben Charlie mehrere Fingerkuppen mit den Schuhen zertreten – und zwar bei ihm zu Hause in seiner Küche. Im Zimmer neben an brüllten die Kinder.

 

{1} Dies ist kein Zitat, lieber Oliver, auch keine Paraphrase, nur ein bescheidener Versuch von Prof. Ramm, sich nebenbei in Rammsteinmanier gehen zu lassen – wie er mir verriet.

{2} Insgesamt gibt es in dem Song fünfzehn* Wiederholungen dieser Sequenz. (*Streng genommen müssten es sechzehn sein. Im Mittelteil wurde von den Jungs eine Wiederholung eingespart, warum auch immer.)

 

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