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Ein Brief von Joshua Groß

Joshua Groß, geboren 1989, lebt in Braunschweig. Gerade erschien sein Roman Flexen in Miami bei Matthes & Seitz Berlin.

Hey Lisa,

habe angefangen, mir zu überlegen, wofür ich influencen könnte, wenn die Welt sich nicht so sehr im Übergang befinden würde. SPEICK nature, Hohes C, Chupa Chups, Panama Jack. In der besten aller Welten auch für FruchtTiger & Kellogs Frosties. Aber mein Mindset lässt eigentlich solche Überlegungen gar nicht richtig zu, nur kurz an der Oberfläche, wo sie gefrieren, dann werden sie weggekratzt, von mir selbst. Wie die Zeit, die heute in sich selbst zusammengeschmolzen ist. Wenn wir immer an der Schrebergartensiedlung vorbeispazieren, wo der Sturm Sabine dieses Trampolin so lädiert hat, dass das Netz, was im Kreis außenrum gespannt ist, wie zerfließendes Marshmallow aussieht – ungefähr so stelle ich mir die Zeit vor, wie sie in sich selbst langsam hineinsinkt. Der Urknall hat sich in diesem Trampolin umgekehrt.

Musste dann auch an Momo denken, wegen dieser Passage:
Dagegen schien die Schildkröte sie gehört zu haben, denn sie blieb stehen und schaute sich um. Momo wollte ihr folgen, aber als sie nun in die Niemals-Gasse hineinging, war es ihr plötzlich, als ob sie unter Wasser gegen einen mächtigen Strom angehen müsse, oder gegen einen gewaltigen und doch unspürbaren Wind, der sie einfach zurückblies. Sie stemmte sich schräg gegen den rätselhaften Druck, zog sich an Mauervorsprüngen weiter und kroch manchmal auf allen vieren.
»Ich komm' nicht dagegen an!« rief sie schließlich der Schildkröte zu, die sie klein am anderen Ende der Gasse sitzen sah, »hilf mir doch!«
Langsam kam die Schildkröte zurück. Als sie schließlich vor Momo saß, erschien auf ihrem Panzer der Rat: »RÜCKWÄRTS GEHEN!«
Momo versuchte es. Sie drehte sich um und ging rückwärts. Und plötzlich gelang es ihr, ohne jede Schwierigkeit weiterzukommen. Aber es war höchst merkwürdig, was dabei mit ihr geschah. Während sie nämlich so rückwärts ging, dachte sie zugleich auch rückwärts, sie atmete rückwärts, sie empfand rückwärts, kurz – sie lebte rückwärts!
(Michael Ende, S. 133 in unserer Ausgabe)

Dazu kann man mal wieder Feels like we only going backwards von Tame Impala hören.
https://www.youtube.com/watch?v=wycjnCCgUes

Überall Portale. Aber es fühlt sich überhaupt nicht so an, als würden wir nur zurückkönnen. Im Gegenteil: ich glaube, es gelingt uns weiterzukommen, sogar wenn wir es gar nicht wollen. Gelingen hierbei sehr mystisches Wort.

Man kann sich auf Youtube mittlerweile immer mehr alte Basketballspiele komplett anschauen. Gestern Abend, während du telefoniert hast, habe ich das Halbfinale der Basketball-EM 2005 geschaut, Deutschland gegen Spanien. Ich glaube, dass ich damals in einer Sportsbar war, ungefähr das einzige Mal in meinem ganzen Leben bisher, & es war so verfickt spannend, & auch gestern musste ich mich wieder so darüber ärgern, wie random deppert Deutschland in den letzten beiden Minuten den Vorsprung komplett verspielt, weil sie überhaupt kein Konzept haben, um mit dem defensiven Druck umzugehen. Immerhin war Nowitzki damals so mächtig, er hatte einfach keine Lust zu verlieren.

In der Welt, wo ich für FruchtTiger & Kellogs Frosties influencen würde, wären wir jetzt am Mittelmeer, inmitten von Granitfelsen & Kakteen. Aber unsere Wohnung ist auch gut, so wie sie ist. & Timothy Morton schreibt: Es wäre besser und logischer und würde weniger Glaubenssätze erfordern, wenn wir alles – auch das Heute – als Geschichte verstehen und diese Geschichte nicht ausschließlich als Menschheitsgeschichte betrachten würden.

Lass uns morgen dran denken, Frosties zu kaufen.

Bis gleich
Joshua

 

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