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Ein Brief von Uwe Kolbe

Uwe Kolbe, 1957 in Ostberlin geboren, übersiedelte 1988 nach Hamburg und lebt heute in Dresden. Seit 2007 war er mehrfach als »Poet in Residence« in den USA. Für seine Arbeit wurde er u.a. mit dem Stipendium der Villa Massimo, dem Preis der Literaturhäuser, dem Heinrich-Mann-Preis und dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet. Im S. Fischer Verlag erschienen zuletzt: der Roman »Die Lüge« (2014), der Essay »Brecht. Rollenmodell eines Dichters« (2016) sowie die Gedichtbände »Lietzenlieder« (2012), »Gegenreden« (2015) und »Psalmen« (2017).

An Altersschwäche zu sterben, ist ein seltener, ein geradezu außergewöhnlicher Tod...
Michel de Montaigne

 

Sehr geehrter Herr,

mit allem Respekt vor dem allzeit sprungbereiten Geist grüße ich Sie als freiesten Mann in seiner selbst gewählten Isolation.

Bei dieser Gelegenheit fällt mir das erste Mal auf, dass ich private Briefe fast ausschließlich mit älteren Freundinnen und Freunden tausche. Einzige wirkliche Ausnahme sind Papiere verschiedener Art, mit denen ich meine erwachsenen Söhne behellige. Wirkliches Adressieren, einander Meinen, einander Wesentliches Mitteilen findet nur mit jenen Älteren statt. A. in der Schweiz etwa, Mitte siebzig. Mein Gott, was für ein Leser und was für ein Briefschreiber, auch in der elektronischen Form. Seine Mails drucke ich aus und lese sie wieder und wieder. Er stellt meine Sätze, meine Briefe, meine Gedichte und damit mich selbst wie ein Jäger. Oder B. in Berlin (»Ich bin ja schließlich keine achtzig mehr...«.). Drei Sätze von ihm, wenn sie denn nach langer Pause eintreffen, sitzen so, dass ich Wochen über angemessener Antwort grüble. Oder C. – seit kurzem einer von denen, die ich auf dem Friedhof besuche –,  seine Handschrift auf dem Couvert ließ das Herz klopfen. Jeder Satz die Aufforderung, das eigene Leben ernst zu nehmen, sanft eingefügt in Komplimente für dies oder jenes Gedruckte. Woher wusste er überhaupt, dass ich es bis dato zu selten getan hatte, das Leben ernsthaft in die eigenen Hände zu nehmen? Was wusste der Mann überhaupt von mir? Warum war ich seinem Durchblick so ausgeliefert? ... Ich übertreibe nicht. 

Wovon ich Ihnen jedoch schreiben möchte, ist, dass ich derzeit eine ein ganz klein wenig der Ihren vergleichbare Isolation genieße. Obwohl sie keine freiwillige ist wie die Ihre. Obwohl ich selbst sie nicht herbeigeführt habe. So oft ich mir dies schon immer einmal gewünscht hatte. Bis hin zur Sehnsucht nach klösterlicher Existenz. Diese nun, die derzeit viele Menschen teilen, hat eine allgemeine und dramatische Ursache. Das, was im 20. Jahrhundert oft und gern als Menschheit bezeichnet wurde und heute wie versehentlich manchmal noch so genannt wird, die Einwohner auch Europas also, auch Italiens, Frankreichs und Deutschlands..., diese Menschheit wird derzeit wieder einmal von einer Krankheit heimgesucht, an der mehr Menschen leiden und sterben als dies gewöhnlich geschieht. Die Rede ist von einer Pandemie. Mehr muss ich nicht sagen. Die Halbwesen, die vom Tier auf den Menschen übergehen oder irgendwo auf der Welt im Labor manipuliert und bösen Willens oder versehentlich freigesetzt werden..., sie haben mich schon als Schüler interessiert. Ich war ein großer Freund beispielsweise von Bakteriophagen, jedenfalls auf Abbildungen im Biologie-Lehrbuch und mit einem ansatzweisen Begriff davon, wie ihre Vermehrung vor sich ging. »Großer Freund« meint selbstverständlich das damals erwachende Interesse an naturwissenschaftlichen Vorstellungen und Tatsachen. Es galt nicht den Krankheiten, auch nicht jener, die gerade grassiert. Deren Freund bin ich naturgemäß nicht.

Dass ich es schon gar nicht in jener Kaltschnäuzigkeit sein könnte, die hier und da in Ihrem weit ausschauenden Werk aus den Sätzen blickt, gehört dazu. Da heißt es in Ihrem Essay über das Alter: »Und eben weil wir die gewöhnlichen Fristen bereits überschritten haben, die das wahre Maß unseres Lebens bilden, sollten wir uns nicht der Hoffnung hingeben, wesentlich weiter zu kommen.« Das ist zutreffend, das ist womöglich weise, aber es mutet eben auch kalt an. Was es – ich rudere umgehend zurück –  dann wäre, wenn nicht neben dem Finger, mit dem Sie mit dieser Aussage auf den reifen Menschen zielen, drei auf Sie selbst gerichtet wären. Sie sprechen von Ihrer eigenen Sache. Es sind Anschauungen des freiwillig isolierten Mannes von der Welt, die er kennt, von seinem eigenen Körper, von seinem eigenen Erdenleben. Sie behaupten nicht, die Weisheit mit Löffeln genossen zu haben. Sie lesen die alten Lateiner. Und Sie gehen oft genug davon aus, dass im alten Rom schon gedacht wurde, was zu denken ist. Und spiegeln Ihre und die Erfahrung Ihres Freunds Étienne de La Boétie in diesem Denken. Ohne Übertreibungen. Sachlich. Man könnte sagen, kühl. Das heißt, wenn Sie die Abschweifung gestatten, ohne den Eifer und die gleichzeitige Herablassung der selbsternannten Oberlehrer unserer Tage. Die nämlich kaltschnäuzige Ideologen sind hinter der Fassade ihres Engagements. Sachlichkeit Ihrer Art, die auf genauer Selbsterkenntnis fußt, finde ich bei sehr wenigen Figuren des mich tangierenden öffentlichen Redens.

Ich liste Ihnen hier spontan ein paar Namen auf, nenne Ihnen ein paar meiner Zeitgenossen am Fuß dieser Zeilen. Die Genannten sind verschiedener Profession und erheben die Stimme zu ganz verschiedenen Themen der, Sie verzeihen: meiner Gegenwart. Es handelt sich aber um Formen mir angenehmer Sachlichkeit, die ich im Laufe der letzten Monate beobachtet habe: Ich finde sie als Treffsicherheit bei dem Moderator Frank Plasberg im öffentlich-rechtlichen Fernsehen; in vielen Zeitkommentaren des Chefredakteurs der Neuen Zürcher Zeitung Eric Gujer; in dem verständlichen und vorausschauenden Argumentieren des Virologen Alexander Kekulé; in den Beiträgen zur Veränderung des Weltklimas des Meteorologen Hans von Storch; in den Büchern und Interviews zu Wurzeln gesellschaftlicher Spaltung des Psychologen Ahmad Mansour; in dem Nachwort von Navid Kermani zu seiner Auswahl aus Hölderlins Werk; bei dem schon lange vor der Pandemie dem Amt angemessen agierenden, lernbereiten Gesundheitsminister Jens Spahn; bei dem Chemiker Michael Braungart, der seit Jahrzehnten mit seinem Cradle-to-Cradle-Prinzip der ökologischen Sackgasse des weltweiten Wirtschaftens entgegentritt.

In diesem Brief an Sie darf ich es einmal beklagen: Das öffentliche Reden ist zu jeder Zeit, aber eben auch jetzt, wo ich ihm ausgesetzt bin, voll von Angemaßtem. Weshalb ich ein paar Ausnahmen erwähnt habe. Sie, verehrter Monsieur de Montaigne, haben sich dem Gerede Ihrer Zeit perfekt entzogen, jedenfalls, wenn Sie in Ihrem Turm den Essays lebten. Ich habe keinen Turm. Aber wer weiß, was die Isolation noch bringt?

Seien Sie meiner allergrößten Hochachtung versichert
Ihr
Uwe Kolbe

 

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