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»Fast jeder Schritt bedeutet auch eine Veränderung«

Roland Schimmelpfennigs Roman ›An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts‹ steht auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2016. Worum geht es in diesem »Reigen aktueller Schicksale«? Und was verbindet die Theaterstücke des international bekannten Dramatikers mit seinem ersten Roman?

114 Roland Schimmelpfennig
© Foto: Heike Steinweg

1.
Ob als Theater- oder Romanautor: Roland Schimmelpfennig ist ein Erzähler von Geschichten. Auf der Bühne führt dieses Erzählen, das Aus-der-Rolle-Fallen der Figuren, das Mitnehmen und Anreden des Publikums zur Auflösung der dramatischen Illusion. Das ›Epische‹ des Theaters ist aber auch eine ganz einfache, uralte Spielweise, die Freiräume der Darstellung eröffnet und die vor Augen führt, dass es auf der Bühne ebenso wie im Epos und Roman um nichts anderes als uns Menschen geht.
Das grundlegende, elementare Merkmal all unserer Geschichten ist dabei die Veränderung. Veränderung – auch der Stillstand oder das Gefangensein als Verhinderung von Veränderung – ist für Schimmelpfennig das zentrale Motiv, der Motor allen Erzählens. »Wohin geht es? Was wird aus mir?« sind die zentralen Fragen seiner Figuren.

»Ob auf dem Theater oder in der Prosa: Ich denke, mein Erzählen versucht immer, eine elementare, in gewisser Weise existentielle Ebene zu erreichen – Geschichten wie Stücke handeln immer von Veränderung – oder von dem Wunsch nach Veränderung. Oder von der Unmöglichkeit einer Veränderung.«

2.
Theater wie Roman leben vom bildhaften Erzählen. »Worte führen dazu, dass man sich etwas vorstellt. Worte rufen Bilder wach. Geschichten sind eine Abfolge von Bildern im Kopf des Zuhörers oder Lesers.«[1] Was beim Lesen von Roland Schimmelpfennigs erstem Roman sofort auffällt, sind die einfachen, klar gesetzten Bilder und Motive: Wolf, Winter, Wald, Schnee ... Mit wenigen Strichen ist sofort eine ganze Welt da. Einerseits ein sehr konkreter, realistischer Erzählraum: die Autobahn, das östliche Brandenburg, Berlin. Mit diesem sehr konkreten, klar verorteten Erzählraum sind andererseits aber auch sehr existentielle, archetypische Bilder verknüpft, die wir aus Märchen, Träumen und Filmen kennen.

»Ein Wolf, dachte Tomasz, das sieht aus wie ein Wolf, vermutlich ein großer Hund, wer lässt hier seinen Hund rumlaufen, oder ist das doch ein Wolf? Er machte ein Foto von dem Tier vor dem Schild im Schneetreiben. Der Blitz in der Dunkelheit. Einen Augenblick später war der Wolf verschwunden.«[2]

Man hat beim Lesen unter anderem immer wieder Bilder aus dem modernen Schwarzweiß-Kino vor Augen. Gleichzeitig ist da aber auch Farbe und vor allem: Feuer. Das Feuer der brennenden Autos, das durch die schwarze Winternacht leuchtet; das Feuer in dem Bauwagen, in dem die beiden Jugendlichen auf ihrer Flucht durch den Wald übernachten; die brennenden Papierfetzen des Tagebuchs, das die Frau auf ihrem Balkon verbrennt.
Solche elementaren Spannungen zwischen heiß und kalt, Licht und Dunkelheit, Feuer und Schnee, aber auch insgesamt die Mischung aus kühler Sprache und Emotion – all das hat mit Roland Schimmelpfennigs zentralem Anliegen zu tun: nämlich von Menschen zu erzählen und uns Menschen, uns ganz normale Leserinnen und Leser, mit diesem Erzählen auch zu erreichen und zu berühren.

»Das Schreiben für das Theater und das Schreiben in Prosa sind vollkommen verschieden. Beim Theater schreibt man für Zuschauer und Schauspieler und Regisseure. Man schreibt, damit der Text gesprochen wird, gehört wird, auf der Bühne gesehen wird, in einem Theater, vielleicht mit roten Sitzreihen, zusammen mit vielen anderen Menschen. Theater ist ein Gemeinschaftserlebnis. In der Prosa schreibt man für den einzelnen Leser, der das Buch in der Hand halten wird. Allein, irgendwo: auf dem Sofa, im Bett, auf einer Parkbank, in einem Zug. Es ist eine andere, direktere, unverstelltere Begegnung. Im Kopf des Lesers entsteht sein eigenes Bild, und dieses Bild gehört nur ihm.«


3.
Der Roman ›An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts‹ ist bezeichnenderweise in kurzen Abschnitten, in Short Cuts, erzählt. Er springt von einer Figur zur nächsten und wieder zurück. Dabei kreuzen sich Wege und Biographien. Ein Spiel mit dem Zufall?
Man kann sich Roland Schimmelpfennigs Short Cuts-Erzähler als jemanden vorstellen, der es nicht aushält, zu lange von einer Figur entfernt zu sein, und der deshalb immer wieder hin- und herspringt. Wie zum Beispiel geht es Tomasz, dem polnischen Bauarbeiter, der dauernd mit dem Auto hin- und herfährt und eben gerade erfahren hat, dass seine Freundin Agnieszka fremd gegangen ist? Was machen diese beiden Jugendlichen jetzt, Elisabeth und Micha, auf ihrer Flucht von zu Hause, nachdem sie fast auf dem Güterzug erfroren sind und in Berlin von der Polizei geschnappt wurden? Wie lange kann der Vater von Micha, ein arbeitsloser Alkoholiker, der Versuchung der ersten Flasche widerstehen? Wie lange bleibt Jacky mit ihrer Sehnsucht und ihrem Kinderwunsch noch bei Charly, mit dem sie diesen tristen Spätkauf betreibt und der wegen des Wolfs immer komischer wird? Und wie geht es mit Elisabeths Vater weiter, dem berühmten Bildhauer, mit dem wir als Leser zuletzt im Atelier vor einem großen Walskelett aus Stahl gestanden haben, bei dem er sich immer mehr fragt: Was mache ich da eigentlich? Und wozu?

»In dem Roman geht es viel um Notwendigkeit, die Notwendigkeit des Handelns, die Notwendigkeit der Bewegung, der Veränderung. Die Figuren müssen handeln, sie bewegen sich vorwärts, ständig – und gleichzeitig. Im Film könnte man zumindest für Momente das Bild teilen, damit der Blick von einer Ebene der Geschichte zur anderen springen kann, aber im Erzählen geht dies nicht: Die Erzählung muss springen, von Geschichte zu Geschichte, von Moment zu Moment an ganz verschiedenen Orten gleichzeitig.«

Wie in seinen Theaterstücken nimmt uns Roland Schimmelpfennig mit auf die Reise und Suche seiner Figuren. Es geht um Wendepunkte und Krisen, um Stillstand und Veränderung, um Aufbruch, Freiheit und Verlorensein. Es geht um Gewalt und soziale Kälte und den Wunsch, dass irgendetwas in dieser ganzen Unruhe von Dauer ist. Letztlich also geht es um was ganz Einfaches in Roland Schimmelpfennigs Roman: Es geht um unsere Sehnsucht nach Liebe und Vertrauen. Denn »ohne Liebe werden Menschen verschlissen und zerstört. So einfach ist es.«[3] 


Text: Sascha Michel, Lektor S. Fischer Verlag
 

 

[1] Aus: Roland Schimmelpfennig, Ja und Nein. Vorlesungen über Dramatik. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Hg. und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2014, S. 55

[2] Aus: Roland Schimmelpfennig, An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 11

[3] Aus: Ja und Nein, S. 86. Das Zitat geht allerdings weiter und macht – wie der Roman – deutlich, dass es so einfach dann doch nicht ist: »Ohne Liebe – und ohne das Vertrauen auf die Freiheit des Anderen – ist jede erdenkliche Scheußlichkeit unter Menschen nicht nur möglich, sondern höchstwahrscheinlich. Aber das eine ist die Theorie – und das andere ist die Praxis (…). Man macht sich öfter, als man es wahrhaben will oder selbst erkennen kann, von den falschen Menschen abhängig. Man vertraut den falschen Menschen (…). Und wenn es etwas herauszufinden gäbe im Leben, wenn ich wirklich – für die Zukunft – eine Sache gerne wissen würde, dann wäre das: Wie erkennen wir die falschen Menschen? Tatsächlich erkennt man sie vermutlich daran, dass sie nicht über sich selber lachen können, das stimmt schon, aber das zu sehen und seinem Instinkt zu vertrauen – das dauert lange. Oft zu lange.« (Ebd., S. 86 f.).

Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. ...

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