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Bilanz nach einem Jahr in der Pandemie

Lisa Krusche zieht Bilanz nach einem Jahr in der Pandemie: Was hat sich geändert? Was blieb gleich? Wie leben wir zusammen?

Irrealis

Am 31. Dezember 2019 postete ich auf Instagram das Foto eines Flipperautomaten. Darunter die Caption: „2019 habe ich 3 Millionen Punkte beim Flippern gemacht. Für 2020 steht 10 Millis knacken auf der Liste.“

Keine besonders hochtrabenden Vorsätze, wenn man mal von meiner geringen Begabung fürs Flippern absieht. Umsetzen konnte ich sie trotzdem nicht. Man kennt diesen Satz und seine Konsequenzen jetzt schon zur Genüge, man hat ihn für sich selbst durchbuchstabiert, man hat ihn andere sagen hören: dann kam Corona. Und man hat ihn schon in deutlich schlimmeren Zusammenhängen gelesen als in diesem Text. Wie schwer wiegt es schon, dass ich daran gehindert wurde, mein Kleingeld in der Ecke eines Waschsalons in den Schlitz eines bunt blinkenden Automaten zu schieben?

Gestern hat Omi angerufen. Omi sagt, sie wisse nicht, ob es nicht das Beste wäre, sich zu erschießen. Ob sie sich noch zwei Jahre einsperren solle. Und ob ich auch das Gefühl habe, dass das Gemüse teurer geworden sei. Eine Zeitlang geht es um Kohlköpfe und Snackgurken. Dann wieder um Corona. Sonst spricht Omi nicht so. Sie hat im letzten Jahr vielleicht mal mit Nachdruck gesagt: „Ich habe jetzt wirklich die Schnauze voll.“ Aber dieses Mal ist kein Nachdruck in der Stimme, viel mehr Erschöpfung.

Meistens versuche ich nicht sentimental zu werden. Ich liege im Bett, ein Deckenburrito, irgendetwas muss mich ja zusammenhalten, während ich größtenteils nur noch online existiere. Vor einigen Wochen hatte ich furchtbare Nackenschmerzen, die bis in die rechten Fingerspitzen zogen und ehrlich, ich glaube, es war andersherum, und die Schmerzen zogen vom rechten Daumen in den Nacken.  Ich wische und scrolle mich obsessiv durch die letztlich immer gleichen Profile und Seiten, angefixt von Diskursen oder Looks oder dem Peanut Butter- Trick mit dem seinen Hund angeblich dazu bekommt freiwillig in die Badewanne zu steigen. Oder vielleicht bin ich auch nur noch gefangen in den geübten und mittlerweile automatisierten Bewegungen. Die Pandemie hat auch mich mit aller Härte ins Onlineuniversum geschleudert. Ich hasse es. Vor allem mich selbst und meine mangelnde Impulskontrolle. Manchmal fange ich schon an, ganz wehmütig an meine Kindheit zu denken, damals, als ich noch nichts vom Internet wusste (hach!). Ich fühle mich sehr alt und sehr technikmüde und vollkommen versaut von Cortisol und Dopamin und was weiß ich was der heavy use vom Smartphone noch alles durcheinanderwirbelt. Ich zerfalle wie sehr lange gegartes Fleisch. Diese digitale Fahrigkeit. Im Smartphone scheint alles entgrenzt und fühlt sich gleichzeitig hundertmal so eng an wie die Ladenfläche von Xin Hua. Ich will mal wieder aufstehen, den Staub abschütteln, der ununterbrochen zaghaft auf mich niederrieselt, die Verklammerung von Leib und Raum wieder zusammen tackern (ist schon klar, wenn man es ganz genau nimmt, war sie nie weg, aber wir wollen hier mal nicht so pedantisch werden, es geht um das Gefühl), aber vor allem auch mal kurz das Kreiseln meines Gehirns anhalten.

Xin Hua ist ein kleiner Imbiss in der Peiner Innenstadt. Auf gefühlten vier Quadratmetern stehen sehr viele Tische und eine Theke hinter der die Köche gebratene Nudeln etc. zubereiten, während man selbst durch die dunstigen Fenster nach draußen blickt. Die goldene Maneki-neko tut bratfettüberzogen stoisch ihren Dienst. Hebt man die Unterarme von der Tischplatte, löst die Haut sich nur langsam, fast verwachsen mit den zuckrigen Flächen alter Getränkereste. Ich kenne diesen Ort aus jener Zeit, in der ich aus Verliebheit in Kleinstadtkifferkreisen abhing, in denen der Laden eine beliebte Anlaufstelle war. Nicht ironisch oder um sich edgy zu fühlen oder beides, sondern mangels Alternativen und weil das Essen wirklich lecker ist. Wenn ich an Xin Hua denke, dann in memoriam an Taugenichtsgefühl von damals, als die größte Sorge noch irgendein heartbreak war, in der Hosentasche ein Handy, das nur SMS konnte, und kein einziges Social-Media-Profil.

Spoiler an mich selbst: auch, wenn das hier alles irgendwann over sein sollte, werde ich nicht wieder Zwanzig sein. Spoiler II: war auch nicht alles cool damals, ich war nur in vielerlei Hinsicht unwissender.

Andersseits haben bestimmte Orte mit ihrem campy Flavour immer noch die mystische Fähigkeit als Entkopplungsmaschinen zu fungieren. Ihre Unaufgeregtheit umhüllt mich meist schon kurz nach Betreten, ihre eigenen Rhythmen lullen mich ein und die Tatsache, dass sie sich nicht auf diese anstrengende Art und Weise ernst nehmen, wie es gewisse oberflächenfanatische Styloläden gerne tun, hilft mir, mich selbst auch nicht so ernst nehmen, also nicht auf die eigene Unsicherheit enttarnende Weise so zu tun als wäre ich etwas, das ich definitiv nicht bin. Mein Gehirn fühlt sich dort so an, wie die Zunge, wenn man Wasser mit sehr viel Kohlensäure trinkt, aber nicht sofort runterschluckt, sondern die Zunge in diesem Britzeln der Bläschen einweichen lässt, bis es als sinnliches Echo in den Muskel selbst eindringt und sich dort fortsetzt.

Ich war schon sehr lange nicht mehr bei Xin Hua. Aber ganz in der Nähe meiner Wohnung, hinter McDonalds, zwischen Staples und Futterhaus liegt das Resteraunt Kaisergarten. In einem alten Baumarkt, genauer dem ehemaligen, überzogen pompösen Gartencenterbereich. In bilateraler Symmetrie erheben sich zwei kleine, geschwungene Dächer über den Neonschriftzügen mit dem Namen des Restaurants. Weiß und rot die Leuchtschrift, blau und gelb die Linien, eine Krone in der Mitte. Vor dem Gebäude: eine lebensgroße Plastikpalme. Von drinnen kann ich nicht viel erzählen, drinnen war ich noch nie. Aber eines Tages, in jener fernen Zeit, wenn das hier alles vorbei ist, oder sagen wir, die Verhältnisse dahingehend transformiert, dass wieder ein etwas geselligeres Leben möglich ist, wird mein erster Weg mich zum dorthin führen. Ich werde an dem sehr großen Buffetbereich einen Berg Reis auf meinen Teller schaufeln und durch die Glasfronten die Autos in der Drive-in-Schlange beobachten.

Kyra hat neulich zu mir gesagt, alles, was sie sich wünsche, sei mal wieder ins Kino zu gehen „und für neunzig Minuten mich selbst vergessen.“

Das große Kino im Braunschweig wurde vor zwei Jahren komplett renoviert, der Stil „eine Hommage an die Zeiten der großen Lichtspielhäuser der 50er- und 60er-Jahre“, wo irgendwo zu lesen war. Hommage heißt hier vor allem ein schwerer, gemusterter Teppich, viel Gold und die Kulissenhaftigkeit des innenarchitektonischen Reenactments. Manchmal, wenn man als letztes aus der letzten Nachtvorstellung in das Foyer tritt, jeder Schritt gedämpft vom Teppich, dann hat diese Künstlichkeit einen seltsamen Grusel. Alles fake wie Wackelpudding, aber es hat auch nie wer etwas anderes behauptet.

Es war im Sommer 2019, Hochsommerhitze in Nürnberg. Glühender Asphalt, glühende Körper. Schweiß aus allen Poren. Wir dachten, wir hätten durch eine kosmische Fügung und mit ein bisschen Stupsen von uns zwei Freund*innen verkuppelt, aber stellte sich heraus, dass es doch weniger die große Liebe und mehr ein intensives Intermezzo war. Wir ahnten diesbezüglich aber nichts und insgesamt wenig und ließen uns in der Pegnitz flussabwärts treiben und auf Stühlen sitzend, die Muster in unsere Pobacken drückten, Eisbecher mit Schirmen servieren.

Irgendwann erinnerte sich Joshua an einen seiner Wackelpuddingorte: ein Waschsalon, in dem ein alter Flipper stand. Draußen 35 Grad im Schatten, drinnen im so eine hohe Luftfeuchtigkeit, man schwomm fast durch den Laden. Wir gingen regelmäßig dorthin, die Hosentaschen ausgebeult und schwer von Zwei-Euro-Stücken, um uns andauernd „Get out of my junkyard!“ mit elektronisch belegter Stimme ins Ohr brüllen zu lassen.

Ein Foto einer weiß gekachelten Wand, in einer Einbuchtung steht ein weißer Kaffebecher. Über der Einbuchtung steht: WEICHSPÜLER.
Lisa Krusche/privat

Perlende Softdrinks, mal eben aus einem Imbiss geholt, die kühlen Dosen gingen auf meinen Nacken, von dort aus temperieren sie über das Rückenmark den ganzen Körper. Verlorene Liebesmüh. An der Wand mimte eine Palmen-am-weißen-Strand-Fototapete karibisches Flair. Weichspülerspender und gestapelte Waschmaschinen. Ein kleines Ledersofa zum Kleben bleiben, wenn man Bein frei trägt. Daneben das Herzstück: ein Flipper von Williams, Yunk Jard Edition von 1996. Comicdesign, überintensive Farben, blinkende Lichter, knallende Sounds, abgegriffene Künstlichkeit, oldschool Attitüde der vielen kleinen Gadgets wie dem Kran mit Pinball als Abrissbirne, einer Toilette, die den Ball herunterspült, einem Flowerpowervan, einer Hundehütte mit bissigem Kampfhund.

Ein Foto von einem Flipperautomat, der JunkYard heißt, und an dem ein Mann mit lockigen braunen Haaren aufgeregt spielt. Die Aufnahme ist leicht verwackelt.
Lisa Krusche/privat

Für zwei Euro pro Spiel wird man zu einem Erfinder, der nachts auf dem Schrottplatz eingesperrt ist und einen Fluchtweg finden muss. Es gilt möglichst viele Müllstücke zu sammeln, um damit verschiedene Maschinen zu bauen, die jede einen neuen Modus oder ein Minispiel ermöglicht. Sollte man einmal alle Modi gespielt haben, startet der Kampf gegen den Schrottplatzbesitzer im Weltall. Mit 3 Millionen Punkten war ich allerdings weit entfernt davon ins All abzuheben. Was soll ich sagen:

„Eat hot Toast, Sucker!“

Früher haben Omi und ich oft einen drauf gemacht. Ich war vielleicht drei Jahre alt und Omi in Feierlaune. Es waren ihre Vierziger und sie lebte in Trennung. In Ulis Weinstube schlief ich auf dunklen Eichenholzbänken, in der Stadtschenke schenkte der Barkeeper Pacco mir kleine Plastikaffen, die man damals an die Gläser hängte, glitzernde Palmen und süße Maraschino-Kirschen. Omi verdankt dieser Zeit die Liebe des Barkeepers, der sich noch heute freudig an sie erinnert, ich verdanke ihr meine Fähigkeit wirklich überall schlafen zu können.

Omi ist viele Dinge. Matriarchin, Optimistin, Zockerin. Manche in meiner Familie sagen: Schummlerin. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls spielt Omi gerne. Eine Zeit lang hat sie intensiv Patiencen gelegt, es gab eine Rommé-Phase und mit meiner Schwester hat sie sich ausgedehnte Kniffelturniere geliefert. Im Herbst 2019 hat sie das Kegeln entdeckt. Dann kam…

Immer, wenn Late-Night-Bowling ist, ist die gesamte Hildesheimer CCR Bowlingbahn in Schwarzlicht getaucht. Schuppen auf den Schultern und Zähne glänzen genauso wie die funkelnden LED-Streifen neben den Bahnen. Es läuft die fein kuratierte Playlist des Ladenbesitzers, mit den Hits seiner Jugend. Staub rieselt sachte von den verblichenen Plastikblumen. In der Ecke sogar eine Palme, sie hat nur noch zwei einzelne Blätter, Hydrogranulat im Topf. Überall 90er Jahre Vektorgrafiken. Beim Latenight Bowling „geht es nicht nur um das normale Bowling mit Strikes und Spares sondern auch um Sonderspiele, die durch unser innovatives Bowlgames System ermöglicht werden“. Innovation, die über circa dreißig Jahre alte Bildschirme flimmert. Letztlich sind diese Events nur was für Loser wie mich und meine Freund*innen, die den Sport nicht besonders ernst nehmen, und sich in ihre Cola heimlich Schnaps aus dem Flachmann mischen. Sportliche Ambitionen kann man an den anderen Tagen der Woche auf Bahn 1 beobachten, wo die Pros mit eigener Kugel und eigenen Schuhen an Bahnrekorden feilen. In der Karte mit karibischem Meeresmotiv (das zieht sich durch) werden Cocktails in vollkommen radioaktiv artifiziellen Farben angeboten. Zu essen gibt es Nachos oder Kartoffelecken mit Sour Cream und Eisbergsalatgarnitur. Auch ein paar Maiskörner aus der Dose. Alles ist Tiefkühl- oder Fertigware. Auch die Cocktails. Sollte ich mal eine Poetologie verfassen, dann wird sie von diesen Cocktails ausgehen.

Genau diese Cocktails bestellten Omi und ich, wenn das alles vorbei wäre. Ich trüge ein silbernes Kleid mit Rüschenärmeln, in dem sich das Schwarzlicht verfinge. Omi ihren glitzernden Hosenanzug. Die Sachen passten vielleicht nicht zu den rot-blauen, ausgelatschten Schuhen, die man nach halbherziger Desinfektion vorne am Tresen ausgehändigt bekäme, aber dafür hervorragend zur Szenerie. Omi entschiede sich für Pina Colada. Sie nähme einen tiefen Zipp. Es liefe I’m still standing von Elton John. Omi tänzelte mit der Kugel in der Hand auf die Bahn zu. Ich riete ihr, dass sie aufpassen solle und nicht auf die Bahn treten, denn die sei glatt. Omi ignorierte meine freundlichen Tipps. Sie stellte sich breitbeinig vor die Bahn, beide Hände um die Kugel, sie beugte sich nach vorne, holte mit der Kugel leicht zwischen den Beinen aus und warf. Strike! Jubel von Seiten des DJs und einen Cocktail aufs Haus. „You're goin' down, flyboy!“, riefe Omi mir zu.

https://www.youtube.com/watch?v=Ye9hGotPPVk&list=RD1k8craCGpgs&index=18

Lisa Krusche, geboren 1990 in Hildesheim, lebt in Braunschweig. Studium der Kunstwissenschaften an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig (HBK). Veröffentlichte in Zeitschriften und Anthologien, u.a. in »Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form des Eskapismus«. 2019 erhielt sie den Edit Radio Essaypreis. 2020 den Hans-im-Glück-Preis und den ...

Zur Autorin

Der Debütroman von Lisa Krusche

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