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Monika Schoeller und die Bienen

Anlässlich Monika Schoellers 80. Geburtstags stellten befreundete Autor*innen ein Buch zusammen, das nach einem Vers von Ilse Aichinger mit »Stimme und Herz« betitelt wurde. Es handelt sich dabei um ein Buch des Dankes. Besonders jetzt, nach ihrem Tod, ist dieser Dank zu betonen. Lesen Sie hier den Beitrag von Gerhard Roth.

Monika Schoeller
© Barbara Klemm

Im Mai 1990 besuchte mich Monika Schoeller in der Steiermark. Der Anlass war die Verfilmung von »Landläufiger Tod« durch ORF und WDR.

Es geht darin um den Sohn eines Imkers – um Franz Lindner. Eine große Rolle spielen dabei die Bienen. Lindner fällt den Dorfbewohnern auf, weil er seit einigen Jahren schweigt. Man hält ihn daher nicht für einen Gehörlosen, sondern für geistig behindert. Wortlos hilft er seinem Vater bei der Arbeit. Still beobachtet er seine Umgebung und kennt schließlich die Umstände eines Mordes, den ein in der Nachbarschaft lebender Jus-Student, Alois Jenner, begangen hat.

Zuletzt versucht Lindner vor ihm zu fliehen. Er bewirbt sich bei einem kleinen Wanderzirkus, wo er seine »Bienenkunststücke« vorführt. Im Mai, in der Schwarmzeit, ist es der »Bienenmensch«, in den er sich verwandelt. Dabei lässt er sich die Bienenkönigin in einem zündholzschachtelkleinen Holzbehälter um den Hals binden, worauf auch das Volk – bis zu 30000 Bienen – auf ihm Platz nimmt.

Mein Imker in der Nachbarschaft, Josef Zmugg, und sein Sohn Walter sprangen damals als »Stuntmen« ein. Walter übernahm die Rolle von Franz Lindner, sein Vater bereitete alles vor. Jeder Schritt des Kunststücks war bis ins Detail ausgearbeitet und festgelegt.

Als Monika und ich am Drehort eintrafen, war ein blau-weiß-gestreiftes Zirkuszelt aufgebaut, und der Imker machte mich diskret darauf aufmerksam, dass niemand der Anwesenden ein geeignetes Schutzgewand trug. Das Kamerateam hatte zwar weiße Schutzmäntel mit Kapuzen übergestreift, die aber nur aus Papier waren. Sogar Regisseur Michael Schottenberg und die Assistenten waren gekleidet wie die übrigen Anwesenden.

Herr Zmugg riet uns jedoch dringend, aus größerer Entfernung zuzusehen.

Wir begaben uns deshalb zu den Neugierigen an den Wiesenrand. Vor Drehbeginn waren immer noch einige Detailfragen ungelöst, weshalb eifrig herumdebattiert wurde, denn die Aufnahme würde sehr kompliziert sein. In der Zwischenzeit zogen schon dunkle Gewitterwolken am Horizont auf. Mehrmals drängte mich der Imker, den Regisseur dazu zu bringen, »endlich anzufangen«, weil die Bienen vor einem Gewitter besonders »stechlustig« seien. Ich tat es, aber es war vergeblich, und in den Augen der ungeduldigen Zuseher und der beiden Imker »ging nichts weiter«. Nervosität verbreitete sich.

Monika hingegen blieb voller Neugierde und frei von Unruhe. Man konnte meinen, sie behielte als einzige den Überblick, weil sie sich ganz auf die Situation einließ. Sie akzeptierte, dass der vermeintliche Stillstand zur Arbeit gehörte.

Walter Zmugg, der Sohn des Imkers, war vor dem Auftritt mit Kissen und einer Fechtmaske geschützt worden und wartete schon darauf, mit dem schwierigen »Kunststück« zu beginnen. Sein Vater, erfuhr ich, hatte vier Bienenvölker, also rund 120000 Bienen auf die Dreharbeiten vorbereitet, indem er sie auch nachts gefüttert hatte, damit sie träger und müder würden. Nachdem er endlich die Bienenkästen öffnen durfte, wurden wir Zeugen eines Vorgangs, den ich nie vergessen werde. Geschäftig, so schien es, setzten sich die Insekten auf Walters Körper und verwandelten ihn allmählich in eine Gestalt aus lebenden Bienen, wie einen Außerirdischen aus winzigen Lebewesen in einem Science-Fiction-Film. Monika ließ sich nichts entgehen, wir alle hatten aufgehört zu reden und folgten jedem Detail. Als der Imkersohn langsam die Arme hob, wurde es so still, dass man das Summen der Bienen auf Walters Körper und die Vögel aus dem nahegelegenen Wald hörte.

Anschließend überlegte der Regisseur laut, die Schlussszene sicherheitshalber wiederholen zu lassen, worauf der Vater mit unterdrückter Wut auf das Gewitter hinwies. Gleichzeitig war ein Donnergrollen zu hören, und mit einem Schlag begannen die Zuseher davonzueilen. Auch das Kamerateam brachte hastig seine Geräte in Sicherheit, da es befürchtete, dass jeden Augenblick die ersten Tropfen fallen würden. Nur Monika und ich blieben beim Imker und seinem Sohn Walter, der schon die Holzschachtel mit der Bienenkönigin von seinem Hals abgenommen hatte und geduldig die Insekten von seiner Kleidung in die offenen Bienenkästen schüttelte. Obwohl auch zwischen Vater und Sohn die Ungeduld des Aufbruchs herrschte, blieb Monika – trotz der wiederholten Warnung des Imkers, dass es gleich zu regnen anfangen würde – vor dem Wiesenrand stehen. Ich trat ein paar Schritte zurück. Monika ließ sich auch davon nicht irritieren. Im Gegenteil, wollte sie sich kein Detail entgehen lassen. Von den 120000 Bienen, die sich von Walter Zmuggs Körper lösten und zurück in ihre Behausungen gelangten, wurde Monika zum Schluss von einer in den Finger gestochen. Sie ließ sich aber nichts anmerken und wollte nicht, dass sie jemand bemitleidete.

Das Gewitter war zur Überraschung aller vorübergezogen, kam aber am Nachmittag dann wirklich.

Sämtliche Texte und Fotos der Autor*innen sind, falls nicht anders vermerkt, aus: Stimme und Herz. Monika Schoeller zum 80. Geburtstag. Herausgegeben von Hans Jürgen Balmes, Corinna Fiedler und Jürgen Hosemann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2019.

Dieser Text erscheint auch am 23. Dezember in »Neue Rundschau 2019/4«.

 

Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, ...

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