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Nach einem 4. März

Teresa Präauer liest Ilse Aichinger. Wie die eine sich an einem Märztag barfüßige Küken vor Augen ruft, regt die andere zu Mutmaßungen über Schuster auf Capri und freudvollen Wünschen an. Eine strahlende Verbeugung vor der Grande Dame in Wien.

114 Ilse Aichinger
© Stefan Moses

Der 4. März liegt in diesem Jahr bereits hinter uns, und ich frage mich, während ich Ilse Aichinger lese, ob diesem Tag rückblickend noch ein Gedicht zuzueignen ist. Oder ob besser poetische Vorkehrungen zu treffen wären für einen, der noch vor uns liegt, für einen 1. November oder einen anderen Tag.

Aber jetzt, heute!, ist Sommer, und ich kann nicht glauben, dass es einmal kalt gewesen ist, und auch nicht, dass es wieder einmal kalt sein wird. Dabei spricht doch der noch klamme März selbst, jedes Jahr wieder, vom nahenden Frühling. Der 4. März ist doch schon der erste sonnige Tag im Jahr! Und ist nicht auch, ich erinnere mich nicht mehr, am 4. März der Schnee beinah geschmolzen? Ja, man verräumt doch am Vormittag des 4. März die Winterstiefel, und man holt sie doch am Nachmittag desselben Tages, dann einsichtig, wieder hervor. So viel Trotz und Zuversicht im März, jedes Jahr aufs Neue.

 

 

An einen 4. März

Nichts fängt sich,

die Küken rennen barfuß im Wind, …

 
Es ist vielleicht, und ausnahmsweise, ein sehr warmer 4. März, dem Ilse Aichinger ihr Gedicht zugeeignet hat, vielleicht einer wie der heutige 9. August. Denn ich kann mir keinen anderen Tag vorstellen als den heutigen: einen 4. März wie einen Augusttag, in einem Monat ohne r.

Und nichts fängt sich, denn an einem 4. März lässt sich keiner fangen. Nichts bleibt hängen, nicht ein Rockzipfel in den Brombeersträuchern, nicht ein Haarbüschel und keine Federn zwischen den Krallen des Nachbarskindes. Die Küken rennen barfuß im Wind, sie tragen das erste Mal im Jahr ihre Winterstiefel nicht mehr, und man wird erst am Fieber der nächsten Tage feststellen, wie vernünftig das gewesen sein wird.

 

… die Schuster sind ausgeflogen,

die Pläne ge-
 

-schmiedet, wollte ich jetzt weiterschreiben: als seien die Pläne geschmiedet. Aber bei Ilse Aichinger heißt es ja:

 

-stern und bei Licht davongekarrt, … 
 

Die großen Pläne sind an einem 4. März womöglich geschmiedet, so wie die Vorsätze bereits zum Jahreswechsel gefasst worden sind. Aber hier, bei Ilse Aichinger, werden sie, ungeschmiedet und solange das Eisen noch glüht, davongekarrt. Ja, sogar tags davor, bereits am 3. März, sind die Pläne, bevor sie noch fest und fix haben werden können, davongekarrt worden.

Welch eine Aussicht aufs Jahr wäre es, wenn bereits Anfang März die Pläne davongekarrt wären! Und die Schuster ausgeflogen, die einem doch statt der abgetretenen die neuen Absätze an die Stiefel nageln sollten! Welch eine Aussicht an jenem 4. März, diesem Dreihundertfünfundsechzigstel eines Jahres, dem daher ein Gedicht zugeeignet ist: denn man hat da, barfuß und bei Licht, eine herrliche Aussicht und keinen Plan.

Und man wird, weil einem die Schuster die Absätze nicht angenagelt haben, die Sätze gleich absatzlos schreiben, in einer langen Wurst. Ein besseres Wort als dieses gebraucht man dabei, zumindest versuchsweise, nicht mehr. Ohnehin wird kaum noch genagelt, sondern es werden die Absätze heutzutage wohl nur noch angeklebt. Und die Stiefel bleiben, bis die Schuster wiederkommen mit ihrer Klebepistole, im Schrank. Und welch eine Absprache hat es gegeben mit den im Wind barfuß laufenden Küken, dass die Schuster Flügel geliehen bekommen haben, um überhaupt erst auszufliegen?

Und vielleicht kommen sie gar nicht wieder, die Schuster. Sie bleiben auf Capri oder sonstwo, wo sie nur an wenigen Feiertagen schmale Sandalenriemen flechten oder flicken. Oder sie sind, unterm sternklaren Caprihimmel, wo Pläne nicht geschmiedet, sondern gestern werden und Gestirn, wieder ganz zum Nageln zurückgekehrt.
All’aperto!

 

Kommt mit auf die lange Wiese …


Kommt mit auf die lange Wiese, heißt es bei Ilse Aichinger, und schiebt es nicht auf die lange Bank! Denn es könnte der 4. März tatsächlich der erste warme Tag des Jahres gewesen sein: danach wieder wochenlang Regen. Und die Küken trügen Daunenjacken. Bevor der Regen kommt: lasst uns noch barfuß im Wind laufen, über die lange Wiese! Kein weites Land, kein breiter Weg. Eine lange Wiese voll mit Schachtelhalmen, Brombeersträuchern und Nachbarskindern. Wir werden mit den Küken barfuß laufen, so schnell wir können, um dann später, zurück im Haus, zu sehen, wie der Regen gegen die Fenster stürzt.

Dort am Tisch wird Ilse Aichinger sitzen, und sie wird sagen: »Ich hatte übrigens gerade noch einen anderen Ausdruck auf der Zunge, er war nicht nur besser, er war genauer, aber ich habe ihn vergessen, während der Regen gegen die Fenster stürzte oder das tat, was ich im Begriff war, zu vergessen. Ich bin nicht sehr neugierig, was mir beim nächsten Regen einfallen wird, beim nächstsanfteren, nächstheftigeren, aber ich vermute, daß mir eine Wendung für alle Regensorten reichen wird. Ich werde mich nicht darum kümmern, ob man stürzen sagen kann, wenn er nur schwach die Scheiben berührt, ob es dann nicht zuviel gesagt ist. Oder zu wenig, wenn er im Begriff ist, die Scheiben einzudrücken. Ich lasse es jetzt dabei, ich bleibe bei stürzen, um den Rest sollen sich andere kümmern.«

Am Abend eines 4. März, nachdem ich über eine lange Wiese gelaufen sein werde, nein: durch eine lange Wiese hindurch, nein: eine lange Wiese entlang, ohne dass ich mich hab fangen lassen, werde vielleicht auch ich die besseren Wörter nicht mehr gebrauchen und mich auch nicht mehr um den Rest kümmern?
Noch warte ich auf die Schuster aus Capri, noch brauche ich Absätze, noch will ich nicht stürzen, wenn ich im Begriff bin. – Dann im nächsten Jahr, bestimmt.

 

… und wer von uns als erster

sieben Schnäbel im Gesicht hat …


Diese Übung aber wird mir leicht fallen, denn dazu braucht es keine Schuster. Die Schnabelmacher sind, auch heute, eine verbreitete Zunft. Die Schnäbel erfreuen sich auch am 9. August noch reger Nachfrage, so sehr, dass man ihnen wünschen möchte, der eine oder andre würde, wie die Absätze, vernagelt oder verklebt.
Aber sieben ist eine heilsame Zahl, und wer sieben Schnäbel im Gesicht hat, braucht die besseren Wörter nicht mehr. Das jedenfalls wünsch ich mir.

 

… und die Pest am Hals,

eh wir uns schlafen legen, …


Ja!, die Pest am Hals, nicht an den sieben Schnäbeln. Und wer sie hat, der …

 

… wird Sieger.

 
Wer die Pest hat, wird Sieger. Abgemacht!

So, wie man vielleicht zu demjenigen, den man am liebsten hat auf der Welt, sagt: Du bist die Pest. Ich wünsch mir dich an den Hals, eh wir uns schlafen legen.

 

 

Vor einem 1. November geschrieben mit der Lektüre von Ilse Aichinger:
An einen 4. März. In: Verschenkter Rat. Frankfurt am Main 1978.
und
Schlechte Wörter. In: Schlechte Wörter. Frankfurt am Main 1976.

Teresa Präauer, geboren 1979, ist Autorin und bildende Künstlerin in Wien. Sie schreibt regelmäßig für Zeitungen und Magazine zu Theater, Kunst, Literatur, Mode und Pop. Ihr Roman ›Für den Herrscher aus Übersee‹ wurde ausgezeichnet mit dem aspekte-Preis für das beste deutschsprachige Prosadebüt. Der Künstlerroman ›Johnny und ...
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