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NEWY_Drahtbericht_171501

Für sein Soziologiestudium hospitiert Juan S. Guse bei der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der UN. Im zweiten Teil seines Drahtberichts erzählt er von der Weihnachtsfeier des Auswärtigen Amtes, Einkäufen bei 7 Eleven und Filmabenden in New York.

114 Juan Guse
© Daria Knorr

Am nächsten Morgen war Jay nicht mehr da. Nach einem merkwürdigen Traum wachte ich mit schrecklichen Nierenschmerzen auf. Ich war auf einer Art Feier auf dem Land eingeladen, wo man mir eine traditionelle Zubereitung von Rind vorführen wollte. Dabei wurde eine Kuh auf einen Pick-up geladen. Dann kam ein zweiter Pick-up u. fuhr dem Pick-up mit der Kuh hinten auf. Ganz langsam presst er sich erst in die Stoßstange u. dann zentimeterweise in die Landerampe hinein, sodass das Tier Stück für Stück zerquetscht wurde u. – als von den beiden Pick-ups nur noch ein Haufen ineinander verwachsenes Metall übrig war – Blut u. Motoröl unten ausliefen u. in einem mit Fingerfarben bemalten Eimer gesammelt wurden. Danach schüttete man Grillkohle über das Ganze u. erhitzte es – fertig. Ich konnte nicht mehr einschlafen u. spazierte die ganze Nacht durch die Stadt.

Auf der Arbeit trank ich viel Tee u. drehte die Heizung hoch, was viele störte, aber dann sagte ich, meine Nieren würden schrecklich wehtun u. sofort waren alle voller Sorge. Ich bildete mir ein, Fieber zu entwickeln, wozu ich zweifelsfrei neigte. Als ich beim Blick aus dem Bürofester eine rote Gondel in den Hochhäuserschluchten fahren sah, war ich sicher, den Verstand zu verlieren. In Wirklichkeit war es bloß die Roosevelt Island Tramway.
Bei den Resolutionsverhandlungen zur Abrüstung von Chemiewaffen gab der Vorsitz ein schlechtes Bild ab. Die daran anschließende Sitzung zu SYR war das Traurigste, was ich je gesehen habe.
Als die Schmerzen nicht aufhörten, beschloss ich, eine Ärztin aufzusuchen. Die Praxis lag in der 61st St. Erst dachte ich, ich hätte mich in der Tür vertan, weil alles wie in einer gewöhnlichen Wohnung eingerichtet war, mit einem Teppich u. braunen Sesseln, aber dann dachte ich mir, vielleicht ist das auch o.k. Es stellte sich jedoch zudem heraus, dass die Ärztin achtzig Jahre alt war u. sehr knochige Hände hatte. Letztlich redeten wir lange über meinen Beckenschiefstand. Irgendwann gestand sie mir, Schweizerin zu sein u. wir setzten unsere Unterhaltung auf Deutsch fort, was seltsam war, weil ihr oft nicht die richtigen Worte einfielen u. sie falsche Verben benutzte, während wir, wie gesagt, in ihrer Wohnung saßen u. ich bis auf meine Unterhose nichts anhatte. Sie versicherte mir schließlich, es gebe kein Blut in meinem Urin.

Zuhause teilte mir meine Vermieterin mit, Jay sei umgezogen. Moritz war jetzt da. Wir gingen einen Slurpee bei 7 Eleven trinken, um uns kennenzulernen, u. er erzählte mir diese Anekdote aus seinem Jura-Referendariat, wo die Beamten der Asservatenkammer konfiszierte VHS löschen ließen, um diese an Schulen u. andere Behörden weiterzuleiten, statt sie wegzuschmeißen. Auf diese Weise landeten peinlicherweise mehrere 80er Pornos in öfftl. Schulen. Nach dem Vorfall kaufte man sich für viel Geld eine Maschine, die magnetisch alle Daten von den VHS löschen konnte. Es dauerte fünf Jahre, bis sie geliefert wurde. Als sie in Betrieb genommen wurde, gab es bereits DVDs u. sogar HD-DVDs. So viele Pointen.
Auf dem Weg von der Haltestelle 51st zur Arbeit gewöhnte ich es mir an, mir einen Apfel an der 2nd Av. zu kaufen. Morgens war ich immer einer der ersten im Büro. Mir fiel auf, dass jmd. immer zur selben Zeit im Raum nebenan Mahler hörte, obwohl dort nur ein Sanitätsraum war.

In einem Meeting zur Prävention von Terrorfinanzierung betonte FRA, dass eine der größten Einnahmequellen von FTFs Selbstfinanzierung sei. Darunter falle auch gewöhnliches Gehalt. Ich fragte mich, ob es jmd. gab, der so leidenschaftlich gern Schaden anrichten wollte, dass er dreißig Jahre lang in einem Restaurant Teller wusch u. traurige Fritten frittierte u. alles Geld immer beiseite legte u. selten Urlaub machte, nur um Terror zu finanzieren. Ich hoffte, jmd. würde daraus mal einen Film machen. Zerstören u. Verwalten.
Aus irgendeinem Grund war Daniel Kehlmann im dt. Haus zu Gast. Er kam mir im Erdgeschoss entgegen u. sah sehr müde aus. Vielleicht wollte er mit seiner Prosa etwas bewegen. Er fragte mich, ob ich der Autor des Drahtberichtes auf hundertvierzehn.de sei. »Du verwechselst mich mit Nolte«, meinte ich u. verschwand in meinem Büro.

Bei einem Abendessen zu Ehren des neuen UNSG Antonio Guterres war Henry Kissinger zu Besuch u. musste jedem die Hand schütteln. Ich freundete mich mit einem von Guterres Sicherheitsmännern an u. er lud mich nach Priština ein, seine Eltern zu besuchen. 

Bei einem anderen Empfang wurde USG Willy Lemke durch den ebenfalls scheidenden UNSG verabschiedet. Bans Hand war sehr weich u. geistgleich. Später plauderten Willy u. ich noch etwas u. ich lud ihn ein, nach Hannover zu kommen.

Direkt im Anschluss fuhr ich nach Brooklyn u. besuchte (wie auch Jakob) Hannes, der scheinbar ständig Besuch von irgendwelchen Leuten bekam, die er eigtl. nicht kannte. Als ich abends wieder zu Hause ankam, sah ich mir das erste Mal Akira an. Es war wie eine große Erleuchtung u. ich schrieb die ganze Nacht an meinem Manuskript weiter.
In einem der drei Fahrstühle gab es einen schweren Unfall. Nachdem ein Stahlseil durchgerissen war, raste der Fahrstuhl fünf Stockwerke nach oben. Der Hausmeister, der sich zu diesem Zeitpunkt darin befand, blieb unverletzt. Die darauffolgenden Wochen hörte man ständig Stimmen im Schacht. Es waren die Arbeiter, die mit Bergsteigermontur die Maschine wieder in Gang setzen sollten. Manchmal fielen ihnen Werkzeuge runter, zwanzig Stockwerke tief, u. es war furchtbar laut im ganzen Haus.
Das Deck, das ich an meinem ersten Tag in der Stadt gekauft hatte, brach in der Mitte durch, also kaufte ich mir nach der Arbeit ein neues. Es brach noch am selben Abend bei LES, was mich nervte. Dafür lernte ich Mark Suciu kennen, der ein paar Clips für RVCA filmen wollte. Er studiert gerade in seinem letzten Semester Literatur u. war ziemlich beschäftigt. Wir trafen uns noch öfter abends bei LES, wenn kaum noch jmd. hier war. 

Philip war noch immer in der Stadt, also ging ich mit ihm u. Armin ins Konzert; die Karte ergaunerte mir Armin, der an der Columbia studiert. Am Tag darauf lief ich mit Philip durch die Bronx. Überhaupt unternahm ich viel mit Philip. Z.B. Mittagessen, aber auch ein Besuch im Museum. Wir sahen uns u. a. Harun Farockis ›Inextinguishable Fire‹ zweimal an. Irgendwann meinte Philip, meinen Drahtbericht gelesen zu haben.

»Ich habe mich gefragt, wo Jay ist. Ich bin jetzt seit zwei Wochen hier u. habe Jay noch nicht einmal gesehen.«
»Es gibt ihn, ich weiß nur nicht, wo er abgeblieben ist.«
»Glaubst du, er ist die Treppe runter zu den Gleisen?«
»Ich traue ihm alles zu.«
»Erst neulich soll man zwei Tote aus den Minen hervorgeholt haben.«
»Ich weiß. Heute Morgen sah ich die Arbeiter schwarze Bänder an ihren Oberarmen tragen.«
»Stimmt es eigtl., dass sich jmd. im Büroturm nebenan erhängt hat?«
»Es stimmt. Er trug ein hellblaues Hemd. Wir haben es alle gesehen.«

Danach gingen wir Tango tanzen. D. h., Philip u. Armin tanzten u. ich sah den beiden zu. Auf dem Weg nach Hause sahen wir Sergei Karjakin u. eine ältere Frau. Er war einfach nie aus der Stadt verschwunden. Im Bett träumte ich, dass ein Wespennest in der Wand direkt an meinem Bett wäre u. sich die Wespen über Nacht in meine Haut gearbeitet hätten u. nun meine Organe fressen würden wie eine nach einem Campingausflug zurückgelassene Salami. 

Als ich wiedermal unter dem FDR rollen war, kamen Polizisten in Zivilstreife zu mir u. wollten meine ID u. meinten, dass ich eine Strafe zahlen muss, aber dann meinte ich, es tue mir leid, ich hätte es nicht gewusst u. dann musste ich doch keine Strafe zahlen. Danach ging ich nur noch zu LES, aber erst sehr spät. Ich fiel an diesem Tag direkt auf mein Gesicht u. es machte einen lauten Schlag. Meine Brille verbog sich u. ich bekam eine dicke Beule auf der Stirn, die ich für die kommenden Tage in die Verhandlungen tragen würde.

Bei Regen füllten sich die Straßen mit Wasser. Ich sah, wie ein Kind an der Hand seines Vaters in einer Bordsteinpfütze verschwand.

Ich ging zu einem Spiel der Brooklyn Nets, das sehr spannend war. Ja Rule war auch da u. versuchte, die erbärmliche Stimmung in der Halle aufzuheizen. Die Partie der Brooklyn Icelanders hingegen war das beste Sporterlebnis meines Lebens. Ich nahm mir vor in Zukunft jetzt öfter zu den Spielen der Hannover Scorpions zu gehen.

Weihnachten. Ich habe ganz vergessen, meinen Fokus auf Weihnachten zu legen. Alles war reichlich geschmückt u. an jeder Ecke standen CT-Einheiten. Ich fragte mich, ob sie jeden Tag, an dem nichts geschah, als Erfolg verbuchen. In gewisser Weise waren diese Frauen u. Männer erfolgreich. Nie gab es Terror, immer nur Touristen.

Weihnachten. Ich habe ganz vergessen, meinen Fokus auf Weihnachten zu legen. Alles war reichlich geschmückt u. an jeder Ecke standen CT-Einheiten. Ich fragte mich, ob sie jeden Tag, an dem nichts geschah, als Erfolg verbuchen. In gewisser Weise waren diese Frauen u. Männer erfolgreich. Nie gab es Terror, immer nur Touristen.

Eines Abends lud mich jmd. ins Hofbräuhaus an der 3rd St. ein. Alles war wie immer, also holzvertäfelt. Dann aber spielte eine amerik. Swing-Band, die in 50er Jahre Klamotten gesteckt war. U. ich dachte: O.k., vielleicht sah es 1946 in München mal genau so aus. Aber dann kam eine Stripperin u. nichts machte mehr Sinn u. Eltern hielten Kindern ihre Augen zu.

Bei der Weihnachtsfeier des Auswärtigen Amtes sangen alle gemeinsam Weihnachtslieder. Direkt danach ging ich auf eine andere Weihnachtsfeier, bei der vor allem alte Menschen zu Gast waren. Überall an den Wänden hingen riesige Uhren. Im Weihnachtsbaum fuhr eine Modelleisenbahn. Irgendwann saß ich auf einer Couch u. kam mit einer unwahrscheinlich alten Frau ins Gespräch. Sie erzählte mir ununterbrochen von ihrer Tour durch Deutschland u. was für schöne Kirchen es dort gebe u. dabei befummelte sie mich die ganze Zeit, ich schwöre, sie befummelte mich u. meinte ständig, dass die Menschen Gott bräuchten, sonst hätten sie keinen Kompass, u. ich meinte, bitte hören Sie auf, mir in den Schritt zu fassen.

Nach mehreren Wochen tauchte schließlich Jay wieder auf. Er meinte, er wohne jetzt in Brooklyn u. ich solle ihn besuchen. Natürlich sagte ich ja, auch wenn es wirklich kalt draußen war. Wir gingen u. a. in ein Haustiergeschäft, in dem die Hamster derart aufeinander losgingen, dass eine Verkäuferin einschreiten musste. Ansonsten war alles wie immer u. wir hatten eine gute Zeit. Er zeigte mir neue Memes, wir spielten Schach u. Leute hielten uns für Zwillinge. Mittlerweile schneite es.
Als seine Eltern zu Besuch in der Stadt waren, gingen wir in ein belg. Restaurant. Mit seinem Vater unterhielt ich mich über Pflegeanstalten für alte Menschen. Altersheime. Später erzählten sie mir von einer Cousine von Jay, die alle ihre Entscheidungen von astrologischen Daten abhängig mache. Sie sage dann immer z.B.: »Ich kann heute nicht einkaufen gehen, weil Merkur derzeit retrograte ist.«
Jay meinte, er habe Nachforschungen angestellt, u. erklärte mir, man müsse in der Tat bei Linie 6 nach der Endstation Brooklyn Bridge sitzen bleiben u. sich verstecken u. dann würde man zu den Minen kommen. Das taten wir. Wir verkrochen uns unter den Sitzen, bis wir die einzigen im ganzen Zug waren.

An einer verlassen wirkenden Station stiegen wir aus. Sie sah gewöhnlichen Haltestellen recht ähnlich, nur dass alle Züge, die hier hielten, entweder Minenarbeiter o. Transportwaggons brachten. Wir trauten uns nicht, in einen der Züge zu steigen, u. folgten stattdessen einem Arbeiter eine Treppe runter. Wir gelangten in einen Raum, in dem merkwürdiges Licht auf dem Boden verteilt war. Irgendwo waren die Stimmen zu hören, aber kein Ausgang in Sicht. Jay u. ich nahmen uns an der Hand.

Wir kamen zu einer Art Zeremonie, bei der junge Leute einen Tannenbaum in die Luft hielten, während im Hintergrund Punkmusik lief. Später lauschten wir Vorträgen zum Prinzip Hoffnung, dem Verlust einer großen Liebe, dem funktionalen Aufbau eines modernen Staatswesens, der industriellen Massentierhaltung, der ewigen Freundschaft u. anderen Dingen. Man erklärte uns, dies sei die Keimzelle eines Widerstandes, von dem noch niemand wisse. Man bereite sich noch vor, man bündele noch Kräfte, man rekrutiere Unterstützer.

Wir trafen Philip, der nicht überrascht wirkte, mich hier zu treffen.
»Du wusstest von diesem Ort?«
»Eine Freundin hat es mir erzählt, aber ich wusste nicht, ob ich es dir verraten durfte. Jetzt bin ich froh dich zu sehen.«
»Kannst du uns sagen, wofür sie die Minen brauchen?«
»Anfangs war es nur eine Tarnung, um sich hier zu treffen, mittlerweile erschließen sie sich damit neue Räume bzw. versuchen sie sich mit dem Verkauf von Braunkohle zu finanzieren.«
Ich erzählte ihm von meiner Idee für das Drehbuch von Zerstören u. Verwalten. u. wir lachten.

Das Ritual mit dem Tannenbaum erinnert mich an einen Traum aus meiner Kindheit.
»Was?«
»Nichts.«
Jay sah nachdenklich aus. Ich fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, ob wir wieder gehen sollten. Er meinte, er wolle noch eine Weile hier bleiben u. den Leuten zuhören, vor allem den Beiträgen zum PR-Terrorismus. Ich wusste, wie sehr er seine Arbeit verachtete u. nahm es ihm nicht übel. Auch ich hatte Lust, zu bleiben, aber ich war auch sehr bequem.

Juan S. Guse, geboren 1989, ist Soziologe und Autor. Seine Romane »Lärm und Wälder« (2015) und »Miami Punk« (2019) erschienen bei S. FISCHER. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem KELAG-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022. Er unterrichtet an der Kunsthochschule für Medien in Köln.

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