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Katerina Poladjans Rede zur Verleihung des Nelly-Sachs-Preises

Katerina Poladjan wurde am 3. April mit dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet. Ihr jüngster Roman »Zukunftsmusik« erschien einen Tag vor Kriegsbeginn – er erzählt die Geschichte eines Aufbruchs und stellt sich dem ewig vagen Heimatbegriff. Ihre ursprünglich für die Preisverleihung im Dezember 2021 geschriebene Rede ist nun eine andere und wirkt über den Tag der Preisverleihung hinaus.

Katerina Poladjan lehnt an der Brüstung eines Fensters. Sie trägt ein dunkelblaues Oberteil, lächelt und stützt ihren Kopf in die linke Hand.
© Andreas Labes

Sehr geehrter Herr Westphal, sehr geehrte Frau Brunsing, sehr geehrte Frau Mais, liebe Jury, verehrtes Publikum! 
Es ist mir eine große Ehre, heute den Nelly-Sachs-Preis entgegennehmen zu dürfen, und ich freue mich sehr, mich in eine Reihe von Preisträgerinnen und Preisträgern gestellt zu sehen, deren Werken und Wirken mein höchster Respekt gilt. Hier zu stehen, hätte ich mir schöner nicht ausdenken können.
Sage ich und lasse den Blick schweifen.
Schweifen: sich ohne festes Ziel in einem Bereich bewegen.
Sinnverwandte Wörter: schlendern, treiben, wandern, ziehen.
Schöne Wörter. Und so treffend für das, wie ich Erzählen begreifen möchte: Schlendern durch fiktive Orte, treiben in den Fluten eines fantastischen Ozeans, wandern über die Klippen einer waghalsigen Dramaturgie.
Dabei ist das Erzählen, das Finden von Sätzen, die Suche nach Worten doch so oft eher: torkeln, taumeln, tasten, hadern, suchen, 
weglassen,
nicht sagen,
nachdenken,
lesen.

»Manchmal glaub ich, man muss zuerst schweigen lernen, bevor man spricht«, schrieb Ilse Aichinger 1946 kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ganz anders klingt es, wenn Carl Zuckmayer die Stimmung der Freiwilligen zu Beginn des ersten Weltkriegs beschreibt:
»Befreiung! Befreiung von bürgerlicher Enge und Kleinlichkeit, von Schulzwang und Büffelei, von den Zweifeln der Berufsentscheidung und von all dem was wir – bewusst oder unbewusst – als Saturiertheit, Stickluft, Erstarrung unserer Welt empfanden… es war Ernst geworden, blutiger, heiliger Ernst und zugleich ein gewaltiges, berauschendes Abenteuer.«
Zu allen Zeiten fühlten sich Literaten berufen, bemüßigt oder gezwungen, zum Krieg Stellung zu nehmen. Thomas Mann sprach in den Jahren 1940 bis 1945 aus dem Exil in Radioansprachen zu den Deutschen, um sie zum Widerstand, zur Besinnung auf die Menschlichkeit, auf den Geist und die Kultur aufzurufen. Wer konnte ihn hören? Wer hat ihn gehört?
Was also tun?

Ich fange nochmal an. 
Ende der 1970er Jahre wurde ich an den Händen meiner Eltern durch einen Spalt im eisernen Vorhang gezogen, und kaum war ich hier, schloss sich der Spalt wieder. Für immer, dröhnte es in meinem Kopf.
Ich ging zur Schule.
Ich lernte die deutsche Sprache.
Das Curriculum führte mich zu den Abgründen der deutschen Geschichte. Gemeinsam mit meinen Mitschülerinnen und Mitschülern erschauderte ich und zog dann das Pausenbrot hervor, denn wir spürten, dass die drängende Kinderfrage, wie Großmütter und Großväter all dies Grauen zulassen konnten, nicht beantwortet werden würde.
Als der Eiserne Vorhang fiel, machte ich in München Abitur und lief einem Jungen hinterher, in den ich mich heute nicht mehr verlieben würde. Ich lieh mir Geld und fuhr nach Ibiza, nicht einen Gedanken verschwendete ich an eine nun mögliche Reise in das Land meiner ersten Kindheitsjahre. Herkunft? Nicht einmal das Wort spielte mehr eine Rolle.
Ich las und schrieb, und beim Lesen und Schreiben entdeckte ich etwas, wofür ich mich der Worte von Margaret Atwood zu bedienen erlaube, Worte, die sie vor zwölf Jahren an dieser Stelle sagte, als sie den Nelly-Sachs-Preis entgegennahm:

»Die Literatur […] lässt uns, soweit dies irgend möglich ist, in den Geist eines Anderen eintreten. Wir können uns vorstellen, wir seien ein Anderer. Und je besser wir dies vermögen, desto weniger können wir den Anderen als eine Sache ohne Gefühle und ohne Menschenwürde behandeln. Wenn wir uns den Abstieg ins Inferno als zukünftiges Geschehen klar vor Augen führen können, dann werden wir ihn auch eher meiden.« 
Die Geschichte scheint Margaret Atwood Lügen zu strafen: Menschen behandeln einander als eine Sache ohne Gefühle und ohne Würde, die Bereitschaft zum Abstieg ins Inferno scheint allgegenwärtig. Doch um wie viel verzweifelter und infernalischer müssen wir uns eine Welt vorstellen, in der kein Kultur- und Geistesleben um Verständnis ringt? Verständnis unserer selbst, unserer Nächsten, unserer Vergangenheit und Zukunft? – 

»Unerreichbar, die Zeit zwischen zwei Atemzügen«, schrieb Nelly Sachs. Ich denke bei diesem Satz an eine unendliche Spanne, einen flüchtigen Moment, viel zu kurz, ihn zu treffen, viel zu ausgedehnt, ihn zu umfassen.
»Unerreichbar, die Zeit zwischen zwei Atemzügen« – Ich denke bei diesem Satz an das Intervall in der Musik: Musik ist die Anordnung von Klängen in einer bestimmten Zeitspanne. Melodien und Harmonien nehmen wir wahr, weil die meisten Töne in dieser Zeitspanne nicht gespielt werden. Natürlich ist es streng genommen auch eine Harmonie, wenn alle Tasten des Klaviers gleichzeitig angeschlagen werden, aber es wird uns schwerfallen im Dröhnen den musikalischen Sinn zu entdecken. 
»Unerreichbar, die Zeit zwischen zwei Atemzügen« – Ich denke bei diesem Satz an den unendlichen Raum zwischen den Zeilen, ein Spielfeld, das Nelly Sachs beispielhaft beherrschte und in ungekannte Dimensionen entfaltete.
Beim Lesen wie beim Schreiben begeben wir uns auf dieses Spielfeld. Erzählen ist kontrollierter Kontrollverlust: In Worte gefasste Fragmente von Welt – mal noch form- und veränderbar wie Brocken feuchter Tonerde, dann wieder fein ziseliert, trocken und zerbrechlich – entgleiten; werden aufgefangen. Fallengelassen. Verändert. Zerdrückt. Eingeordnet.

Das ist existenziell. Und nur ein Spiel – zur Zeit zwischen zwei Atemzügen. Arthur Schopenhauer schrieb in seiner Vorrede zur ersten Auflage seines Opus Magnum Die Welt als Wille und Vorstellung: »Was durch dasselbe Buch mitgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke.« Es folgten fast zweitausend Seiten. »Im Zweifel für den Zweifel«, sangen Tocotronic.
Der Zweifel und der Sinn für Ambivalenz schärfen das Bewusstsein für das Ausschnitthafte unserer Weltwahrnehmung. Wenn wir erzählen, winden wir uns um Lücken und Unwägbarkeiten, ringen mit dem Schwindel vor dem Abgrund unseres Unverständnisses und Unwissens. Und mal ist das eine Zumutung, mal prickelnd wie Champagner.
Dabei denke ich oft an meine Grundschullehrerin Frau Mirbach, sie sagte: 
»Wenn du einsam bist, dann schreib und lass dir nicht die Schönheit ausreden.« In diesem Sinne möchte ich den Preis begreifen, und es ist mir Ehre und Aufgabe, diesen Staffelstab weiterzutragen.
Ich danke der Stadt Dortmund und der Jury für diese Ehrung, ich danke Christiane Hauch und Henning Fritsch für das jahrelange Zusammenspiel, dem S. Fischer Verlag, bei dem ich zuhause sein darf – nennen möchte ich meine Lektorin Juliane Schindler – und all jenen Verlagen, die das Erscheinen von
Hier sind Löwen auch in anderen Sprachen ermöglicht haben und ermöglichen. Ich danke denen, die sie von der einen in die andere Sprache bringen, den Übersetzerinnen. Besonders aber danke ich meiner türkischen Verlegerin, die bereit war, Hier sind Löwen in der Türkei zu veröffentlichen. Ich habe sie gefragt, ob sie keine Angst habe, und sie sagte, natürlich habe ich Angst, aber man gewöhnt sich. 

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt »In einer Nacht, woanders« folgte »Vielleicht Marseille« und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht »Hinter Sibirien«. Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie ...

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Katerina Poladjans »Zukunftsmusik« und »Hier sind Löwen«

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