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Trauerfeier Roger Willemsen: Ein idealer Freund

Verlässlichkeit, Komplizenschaft, Kritik: Das waren die drei Pfeiler von Roger Willemsens Freundschaftsverständnis. In ihrer Trauerrede erzählt Katja Scholtz, Programmleiterin im Mare Verlag, vom Glück einer Begegnung, einer Freundschaft mit Roger Willemsen.

Liebe Familie Willemsen, liebe Freunde, liebe Gäste,

knapp zwei Jahre ist es her, dass Roger und ich beide bei einer Veranstaltung in Bremen sprechen mussten. Er zuerst, später ich. Im Anschluss an die Veranstaltung kam er zu mir nach vorn und sagte: »Ausgezeichnete Rede, Liebes! Aber wenn ich dir eins mit auf den Weg geben darf: Das hier« – und er spannte seine langen Arme auf und zirkelte einen Raum von etwa zwei Quadratmetern ab – »das hier ist dein Raum, wenn du sprichst. Den darfst du ruhig benutzen!« In den letzten Tagen hab ich mich manchmal gefragt, ob ihm eigentlich, als er sich wünschte, dass ich heute hier stehe, bewusst war, dass ich mich mehr denn je ans Pult klammern müsste. Das würde ich ihn gern fragen. Wie ich ihn überhaupt so unendlich vieles gern noch und weiterhin fragen würde. Das kann ich nun nicht mehr. Wie geht das, ein Leben ohne Roger? Wenn wir uns jetzt schon so hilflos fühlen ohne ihn und wissen, wie unersetzlich er ist.

Wir haben viel gehört und gelesen über seine Brillanz, seine überbordende Energie, seine Schnelligkeit und Schärfe, seinen Witz, seine grenzenlose Zugewandtheit und Begeisterungsfähigkeit, sein Querdenken, seine Bildung und sein Wissen, mit dem er mich auch nach knapp zwanzig Jahren noch verblüffen konnte – denn Roger war ja nicht nur Experte für Literatur, Politik, Kunst und Jazz, sondern ebenso für russische Stabhochspringer, tasmanische Schnabeligel, alle Arten von Amphibien und persischen Safran. All dies wird uns fehlen, uns und der Welt. Seine Expertise, sein Wesen.

Vor allem aber wird er mir – und vielen von uns – fehlen als Freund. Roger war ein herausragender, fast möchte ich sagen: ein idealer Freund. Ich gestehe, dass mir das nicht immer klar war – dass ich ihn anfangs unterschätzt habe, unterschätzt ausgerechnet da, wo er sich am verlässlichsten zeigte. Mir fehlte das Zutrauen in die Möglichkeit einer Kontinuität, war dieser Mann doch eigentlich dauernd auf Reisen, auf Bühnen, in Hör- und Konzertsälen, machte täglich neue Bekanntschaften, er war, um mit seinen eigenen Worten zu sprechen, der »rasende Roger«. Irgendwann aber verstand ich, dass das Herz, mit dem er an seinen Freunden hing, ruhiger und gleichmäßiger schlug als der Puls dieses rasenden Rogers. Und dass zu seinen ungezählten Talenten vor allem eines gehörte: das Talent zur Freundschaft. Das besaß er wirklich, und es manifestierte sich in vielen Dingen, vor allem aber in diesen dreien:

Da war, zuvorderst, seine absolute Verlässlichkeit. Sie äußerte sich in unverbrüchlicher Treue und Loyalität, auch und gerade in Zeiten, in denen das Wasser, auf dem man sich bewegte, kabbelig war; er war einfach immer da. Immer. Und wenn wir schon bei den vielleicht altmodisch zu nennenden, dann aber doch existenziell wichtigen Tugenden sind: pünktlich war er auch. Rogers bevorzugte Zeit für das Mittagessen war halb eins, doch immer, wenn ich um Punkt halb eins die Osteria betrat, saß er längst da und machte Notizen in seinem kleinen schwarzen Moleskine-Buch oder, ein bisschen wahrscheinlicher, hielt die Mitarbeiter vom Dienst ab, indem er mit roten Wangen von der letzten Tournee erzählte oder Tisch-Reservierungen für die kommenden fünf Tage vornahm. Mit der Zeit entwickelte sich ein kleines Spiel zwischen uns, weil ich beharrlich versuchte, früher da zu sein als er – was er natürlich durchschaute. So dass wir zuletzt meistens gegen 12 Uhr 14 in die Menükarten sahen. (Das freute ihn diebisch, glaube ich.)

Zur freundschaftlichen Treue gehörte für ihn vor allem, und dieses Wort werden (neben dem Berserkerhaften) so viele von uns mit ihm in Verbindung bringen: die Komplizenschaft. »Ach, und wir beide haben wieder furchtbar viel zu reden« schrieb er oft, »müssen die Köpfe zusammenstecken und verschwörerische Rede führen ...« Die Einheit, Verschworenheit, das »frontale Füreinander-Leben«, die Vertrautheit und das Teilen von Überzeugungen und Erinnerungen: Das waren die Begriffe, mit denen er den Geist der Freundschaft beschwor – und es war eben keine Rhetorik. Sondern genau so gemeint.

Was man nicht zuletzt daran erkennen konnte, dass er durchaus vernehmbar Protest erhob, wenn er die Einheit gefährdet sah, wenn Verabredungen nicht zustande kamen oder verschoben werden mussten – dann wurde ich schnell mal zur »vom Laster entstellten Sünden-Scholtz« und er selbst zum »Fliegenden Holländer« oder zum »Ewigen Juden, der einsam über die Erdoberfläche ziehen muss«, oder er drohte, »ab September einen Kursus als kaspischer Seegurkentaucher in der Hohen Tatra« zu absolvieren und also vorläufig nicht mehr abkömmlich zu sein. »Groß wie deine Liebenswürdigkeit sind auch deine Verfehlungen«: So begannen Briefe oder E-Mails, in denen er mir zärtlich die Leviten las, und gelegentlich war dabei auch von »Notwehr und Reklamation auf Artenschutz für uns« die Rede.

Auch in diesem – wie albern oder liebevoll auch immer geäußerten – Protest lag die Ernsthaftigkeit seines Strebens in Freundschaftsdingen. Denn die Botschaft war: Wir sind einander versprochen in Freundschaft, lebenslänglich, also nimm das gefälligst ernst. Belastbare Verhältnisse, Komplizenschaft, Freundschaft – oder, wie Roger gern auch sagte: Freundschaftsliebe –, das bedeutete für ihn nicht schwirren oder schwärmen (das konnte er auch!), sondern: beibleiben.

Eng verwandt mit der gelegentlich aufflammenden Empörung war, und das scheint mir der dritte starke Pfeiler zu sein in seinem Freundschaftsverständnis (neben Verlässlichkeit und Komplizenschaft): seine unvergleichliche Gabe zur Kritik. Wir alle wissen, dass wir Freunde brauchen nicht nur als Weggefährten, Vertraute und als Inspiration, sondern auch als Korrektiv. Und wir alle wissen, wie schwer das ist. Roger besaß die große Gabe, uns den Spiegel vorzuhalten, ohne je zu verletzen, sich zu mokieren, ohne sein Gegenüber bloßzustellen, er sah und bemerkte alles – jede Kursabweichung, jede Verirrung, jedes noch unausgesprochene Gefühl, aber übrigens auch jede neue Strickjacke (»Oh, wie hübsch die ist«, sagte er vor noch gar nicht so langer Zeit zu mir und strich über den Ärmel der Jacke, die ich trug. »Hast du eigentlich einen besseren Geschmack bekommen, Liebes?«). Ja, frech war er auch, und nicht selten derb. Aber er konnte und durfte all dies sein, weil selbst die schärfste Kritik der Liebe entsprang, die er fühlte: Alles geschah zum Schutz und nichts zur Entlarvung.

»Ich fühle mich so beschenkt«, sagte er oft in den letzten Tagen vor seinem Tod. Doch in Wahrheit war er es, der uns beschenkte. Jede Begegnung mit ihm ließ uns gestärkter zurück, als wir es vorher waren, beseelter, glücklicher, und zwar bis zuletzt. Roger war es, der Glück stiftete, Freundschaften, sogar Ehen. Ich selbst bin eine der größten Profiteurinnen – ich bekam alles drei durch ihn geschenkt.

Was ihn befähigte zu so viel freundschaftlicher Liebe und Hingabe, das war sein so großes und fühlendes Herz. Sein Herz, das immer größer und weiter wurde, je zarter und dünner die Krankheit ihn werden ließ. Zuletzt interessierte er sich nicht mehr für den Zustand der Welt. Und schon gar nicht für seinen eigenen. Er sorgte sich vor allem um die anderen, um uns, seine Freunde – und um jene, denen er keine Zeilen mehr zukommen lassen, von denen er sich nicht mehr verabschieden konnte.

Es gibt einen Werther zitierenden Buchtitel, der seit zwei Wochen echoartig in meinem Kopf hallt, er lautet: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. Die Lücke, die Roger in unserem Leben reißt, wird durch nichts zu schließen sein. Wir vermissen ihn unendlich. Seit der Nacht vom 7. Februar haben wir ihn keine Sekunde nicht vermisst. Was uns bleibt, ist die übermächtig lebendige Erinnerung an ihn, der uns auch über den Tod hinaus Vorbild und Leitstern bleiben wird, Freund und Geschenk, und dem wir so unendlich viel verdanken.

Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den ...

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