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Wie der Weihnachtsmann zu seinem Beruf kam

Drei Prinzessinnen, ein böser Wolf und die Suche nach einer mysteriösen Zauberblume: Eine unheimliche Weihnachtsgeschichte von Marion Brasch.

Wie der Weihnachtsmann zu seinem Beruf kam
© Matthias Mücke

Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter. Eine hieß Birgit, die zweite Helga und die dritte Gerhard. Die zwei älteren Prinzessinnen konnten die jüngste nicht leiden, weil sie schöner und klüger war als sie. Eines unschönen Tages nun beschlossen die beiden bösen Prinzessinnen, der jüngsten einen besonders gemeinen Streich zu spielen. Sie sprachen: „Gerhard, es wird Zeit, dass du dir einen Mann suchst, der zu dir passt. Geh in den Wald und hole uns die Rote Zauberblume, die wollen wir braten und essen. Danach sehen wir weiter.“

Das Mädchen Gerhard war nicht nur wunderschön und klug, sie war auch sehr hilfsbereit und fleißig. Also packte sie ein paar Sachen zusammen und ging in den Wald, um die Rote Zauberblume zu finden. Sie wusste, daß dies eine lange, beschwerliche und gefährliche Suche sein würde, denn der Wald war in der Gegend als hinterhältig und verschlagen verschrien und trug aus diesem Grunde auch den Namen Als hinterhältig und verschlagen verschriener Wald. Doch weil Gerhard nicht nur wunderschön, klug, hilfsbereit und fleißig, sondern zudem auch noch mutig war, setzte sie das unerschrockenste Gesicht auf, das sie finden konnte und machte sich auf den Weg zu jenem Wald, den wir zugunsten dieser Geschichte Wald der Niedertracht nennen wollen. Kaum nun hatte also Gerhard den Wald der Niedertracht betreten, versperrte ihr ein Wolf den Weg. Gerhard hatte noch nie zuvor ein solches Tier gesehen und war ohne Arg. „Guten Tag, liebes Tier“, sprach sie. „Ich bin auf der Suche nach der roten Zauberblume, ob du mir vielleicht sagen kannst, wo ich sie finde?“ Der Wolf betrachtete das Mädchen lange und antwortete: „Vielleicht kann ich, vielleicht kann ich nicht. Was gibst du mir, wenn ich’s dir sage?“ Gerhard dachte einen Augenblick nach, kramte in ihren Schürzentaschen und zog eine Kugelschreiberfeder hervor. „Das ist alles, was ich dir geben kann, liebes Tier. Mehr besitze ich nicht.“ Der Wolf hatte eine Kugelschreiberfeder vorher noch nie gesehen, wollte sich aber keine Blöße geben und fragte also: „Was zum Teufel soll ich mit diesem Ding?“

„Nun“, sprach Gerhard weise, „man kann damit eine Menge anfangen. Wenn du sie in die Sonne hältst, bricht sie sich darin und wirft lustige Schatten. Wenn du sie in den Fluss legst, treibt sie davon und du wirst Spaß daran haben, sie wiederzufinden. Du kannst sie als Angelhaken benutzen, du kannst sie zwischen Daumen und Zeigefinger drehen und sie wird dir den Weg in die Unendlichkeit weisen.“ Gerhard schaute bei dieser letzten Bemerkung versonnen in den Himmel und drehte gleichzeitig am linken Zipfel ihrer Schürze. „Ich hab’s mir überlegt“, sprach der Wolf nach einigem Nachdenken, „ich nehme sie und zeige dir den Weg zu ... äh ... wohin noch mal?“ 

„Zur Zauberblume“, antwortete Gerhard und ließ plötzlich und auch für sie selbst irgendwie unerwartet den linken Zipfel ihrer Schürze los: „Die Rote Zauberblume soll ich suchen, auf dass meine Schwestern sie braten und essen können. Danach wollen sie weiter sehen.“ Der Wolf legte seine Stirn in Falten und dachte angestrengt nach: Wie kann ich dieses engelsgleiche Geschöpf dazu bringen, sich freiwillig zu ergeben und sich von mir runterschlucken zu lassen? – Was er nicht wusste war, dass Gerhard sich ihre eigenen Gedanken in dieser Angelegenheit machte. Sie dachte: Warum denkt das Tier so lange nach? Hat es womöglich gar keine Ahnung, wo ich die Zauberblume finden kann? Vielleicht ist es ihm auch egal und er tut jetzt nur so, als würde er es wissen. Er ist ein Wichtigtuer, der glaubt, damit Eindruck auf mich zu machen. Vielleicht will er mich auch reinlegen, um mich aufzuessen. Vielleicht bin ja sogar ich die Zauberblume, nach der ich suchen soll! – All diese Gedanken dachte das Mädchen als plötzlich etwas Unerwartetes geschah: Der Wolf machte kurzen Prozess und schluckte Gerhard runter. Dann ging er seines Wegs. 

Als dieser Vorfall öffentlich wurde, zeigten die beiden bösen Gerhard-Schwestern Birgit und Helga keine Reue. Sie heirateten später, wurden müde und gingen dann ins Bett. Am nächsten Tag war Weihnachten. Allerdings gab es zu jener Zeit noch keinen Weihnachtsmann, was ein ziemlich großes Problem war, wenn nicht eines Tages ein Wanderer des Wegs gekommen wäre und beschlossen hätte, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. So kam der Weihnachtsmann zu seinem Beruf.

 

Hier gibt es die Geschichte auch als Hörspiel zu hören.

 „Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot“ / Voland & Quist, 2016

Text: Marion Brasch
Illustration: Matthias Mücke