Editorial
Jedes Jahr, Ende März oder im Lauf des Aprils, ziehen Scharen von Störchen von Südafrika aus über die arabische Halbinsel und die Türkei nach Polen und in die Ukraine, um dort zu brüten. Ein Storchennest auf dem Dach bedeutet Glück, die Vögel sollen Fruchtbarkeit, neues Leben und die Hoffnungen des aufblühenden Frühlings bringen. In diesem Jahr ist alles anders. Statt ihrer üblichen Nistplätze fanden die Störche Trümmer vor, brennende Häuser, von Raketen zerstörte und von Menschen verlassene Dörfer, Leichen in den Straßen. Es sind Bilder von Gräueltaten, wie die meisten von uns sie sich bis vor kurzem nicht hätten vorstellen können; nicht in diesem Ausmaß, nicht heute, nicht so nah. Und doch wäre wohl abzusehen gewesen, was lange vorbereitet und geplant wurde: ein Angriffskrieg mitten in Europa. Ein Bruch, der alles verändert.
Dieses Heft ist in zweifacher Hinsicht Zeugnis eines laufenden Prozesses. Viele Texte geben Einblicke in das Nachdenken über das, was gerade in der Ukraine geschieht. Sie bezeugen ein Verarbeiten, sind ein Blick in die Werkstatt. Und alle Texte sind geschrieben im Bewusstsein einer extremen Zeitlichkeit. Denn natürlich ist es zu früh, diesen Krieg auf gesicherten Quellen basierend zu analysieren oder gar literarisch zu verarbeiten. Wir wissen nicht, was geschieht, bis Sie dieses Heft in der Hand halten.
Bei der ukrainischen Lyrikerin Natalia Belchenko erinnert der Flug der Störche an die Flugbahn der Raketen. Zukunft und Vergangenheit fallen ineinander, »sitzen fest in grammatischem Schlamm«. Die Vögel sind im Nest und doch noch nicht angekommen. Dieser Zustand gleicht dem Nachdenken über einen noch immer anhaltenden Krieg. Und doch gilt es, zu verstehen, jetzt mehr denn je, in einer Zeit, in der das Nicht-Verstehen so gezielt zur Waffe wird. Es gilt, zuzuhören und Perspektiven und Expertisen zu vereinen, so dass sich auch jetzt ein Bild ergeben kann, das tiefer geht als die täglichen Nachrichten. Für all die Teile dieses Bildes danken wir den Beitragenden dieses Heftes sehr.
Julia Heinen