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Wofür Sprache da ist

Nachdenken über die Ukraine. Nachdenken über das, was sich seit dem 24. Februar 2022 verändert hat. Reflektieren über die Nachrichtenticker hinaus. Darum geht es in der nächsten Ausgabe der Neuen Rundschau. Neben dem einleitenden Editorial lesen Sie hier auch Katharina Hackers Text »Wofür Sprache da ist«.

Zwei Störche gleiten über eine spiegelnde Wasseroberfläche.
© jplenio1

Editorial

Jedes Jahr, Ende März oder im Lauf des Aprils, ziehen Scharen von Störchen von Südafrika aus über die arabische Halbinsel und die Türkei nach Polen und in die Ukraine, um dort zu brüten. Ein Storchennest auf dem Dach bedeutet Glück, die Vögel sollen Fruchtbarkeit, neues Leben und die Hoffnungen des aufblühenden Frühlings bringen. In diesem Jahr ist alles anders. Statt ihrer üblichen Nistplätze fanden die Störche Trümmer vor, brennende Häuser, von Raketen zerstörte und von Menschen verlassene Dörfer, Leichen in den Straßen. Es sind Bilder von Gräueltaten, wie die meisten von uns sie sich bis vor kurzem nicht hätten vorstellen können; nicht in diesem Ausmaß, nicht heute, nicht so nah. Und doch wäre wohl abzusehen gewesen, was lange vorbereitet und geplant wurde: ein Angriffskrieg mitten in Europa. Ein Bruch, der alles verändert.
Dieses Heft ist in zweifacher Hinsicht Zeugnis eines laufenden Prozesses. Viele Texte geben Einblicke in das Nachdenken über das, was gerade in der Ukraine geschieht. Sie bezeugen ein Verarbeiten, sind ein Blick in die Werkstatt. Und alle Texte sind geschrieben im Bewusstsein einer extremen Zeitlichkeit. Denn natürlich ist es zu früh, diesen Krieg auf gesicherten Quellen basierend zu analysieren oder gar literarisch zu verarbeiten. Wir wissen nicht, was geschieht, bis Sie dieses Heft in der Hand halten.
Bei der ukrainischen Lyrikerin Natalia Belchenko erinnert der Flug der Störche an die Flugbahn der Raketen. Zukunft und Vergangenheit fallen ineinander, »sitzen fest in grammatischem Schlamm«. Die Vögel sind im Nest und doch noch nicht angekommen. Dieser Zustand gleicht dem Nachdenken über einen noch immer anhaltenden Krieg. Und doch gilt es, zu verstehen, jetzt mehr denn je, in einer Zeit, in der das Nicht-Verstehen so gezielt zur Waffe wird. Es gilt, zuzuhören und Perspektiven und Expertisen zu vereinen, so dass sich auch jetzt ein Bild ergeben kann, das tiefer geht als die täglichen Nachrichten. Für all die Teile dieses Bildes danken wir den Beitragenden dieses Heftes sehr.

Julia Heinen

Nachdenken über die Ukraine

Zum Buch

Katharina Hacker
Wofür Sprache da ist

Zum Schlimmen am Krieg gehört, dass man die Gegner hassen muss. Man hasst sie, auch wenn man weiß, sie sind Akteure in einem Spiel wie man selber, in das man dann hineingezwungen wird als Mensch, mit dem Körper und mit der Seele.
Wir sollten uns gegen die Sprachen des Krieges wehren. Wir müssen denen helfen, die verzweifelt auf Hilfe angewiesen sind, denen, die mit großem Mut ihre Sicherheit aufs Spiel setzen, um gegen Unrecht zu kämpfen.
Wir sollten die respektieren, die das nicht wagen. Wir sollten gegen jede eskalierende Sprache anschreiben und den Mut zur Differenzierung auch für die bewahren, die keine Kraft dafür aufbringen können.

Sprache ist dafür da, Platz zu schaffen, wo den Menschen die Luft auszugehen droht.
Und wo Dunkelheit auf Dunkelheit folgt, sind wir alle verantwortlich für jedes bisschen Licht.

Katharina Hacker, geboren 1967 in Frankfurt am Main, lebt nach mehrjährigem Aufenthalt in Israel als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg. 2006 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für »Die Habenichtse«. 2015 erschien ihr Roman »Skip« und 2021 das Jugendbuch »Alles, was passieren wird«. Katharina Hacker wurde 2021 ...

Zur Autorin