Das Tagebuch von Anne Frank ist die intime Geschichte einer einzigartigen Jugendzeit, und gleichzeitig ist es die Geschichte der Shoah.
Die Texte haben über die Jahre nichts von ihrer Kraft verloren; sie sprechen auch heute noch ihre Leserschaft und vor allem Kinder und Jugendliche ganz direkt an. Wir, die sie lesen, sind bei Anne Frank, schauen ihr beim Schreiben über die Schulter und teilen mit ihr die Geheimnisse, denen die Geschichte eine Bedeutung verliehen hat, die mit keiner anderen vergleichbar ist. Wir bleiben trotz der Jahre, die kommen und gehen, mit Anne Frank verbunden.
An erster Stelle sind Anne Franks Texte ein brillant geschriebener Bericht über das Leben in einer erzwungenen Isolation. Sie sind der Bericht eines jungen Mädchens, Anne, die uns trotz der dramatischen Umstände – im »Hinterhaus« mit ihren Eltern, ihrer Schwester und einigen Freunden auf drei Stockwerken eingepfercht, verborgen hinter dem Geschäft des Vaters im von den Nazis besetzten Amsterdam – an ihren Freuden und Leiden teilhaben lässt. Und die uns daran teilnehmen lässt, wenn sie die Welt, die sie umgibt, ihre Familie, ihre aufkommenden Gefühle und ihren sich verändernden Körper hinterfragt.
Jugendliche können gar nicht anders als mit diesen Zweifeln, Wutanfällen und Sehnsüchten vertraut sein, zumal die mit außergewöhnlicher Reife und Perfektion verfassten Tagebucheinträge nichts verschleiern, aber alles hinterfragen – ohne Verstellung oder falsche Scham.
Anne Frank betrachtet sich selbst mit dem gleichen Blick wie das Leben: ein Blick von seltener Intelligenz und Klarheit, mit einer Strenge sogar, für die sie sich danach manchmal Selbstvorwürfe macht, an der sie aber wächst. Letztlich blieb ja die Zeit während der zwei Jahre im Hinterhaus nicht stehen, ruhte ihr Leben während dieser Zeit der Gefangenschaft nicht. Vielmehr war es eine Periode des Entdeckens und Lernens, und diese spezielle Phase schafft eine tiefe, von einer außerordentlichen Kraft gezeichnete und die Zeit überbrückende Verbundenheit mit Jugendlichen ihres Alters.
Doch ihr Tagebuch ist nicht einfach ein Zeugnis, es steht nicht für einen Hilferuf oder ein Testament. Anne Frank versucht vielmehr, die Welt zu verstehen und in Worte zu fassen. Dies ist eine Eigenschaft von Literatur, und dadurch wird ihr Werk unsterblich. Die Geschichte hat aus dem, was zunächst lediglich das Tagebuch eines jungen Mädchens mit frühem schriftstellerischem Talent war, ein Monument der Erinnerung der Menschheit gemacht. Anne Frank gestattet uns, mit ihren Augen die ganze Palette des Lebens, der Welten und der erstickten Möglichkeiten zu sehen, während das Ausmaß der Millionen von Toten der Shoah so schwer zu fassen ist – umso mehr, wenn es sich dabei um Kinder handelt. In ihrer Jugendzeit ums Leben gebracht, zeigt uns Anne Frank nachvollziehbar, was durch die Shoah vernichtet wurde.
Heute, neunzig Jahre nach Anne Franks Geburt – womit sie also noch unter uns sein könnte – und fast siebzig Jahre nach ihrem Tod, hat der Antisemitismus noch nicht aufgehört, sein tödliches Gift zu verbreiten. Im Gegenteil: Er kommt aus der Ferne und erstarkt in einer Welt, in der sich der Hass und die Lügen mit viel größerer Leichtigkeit ausbreiten als die Wahrheit. Der Antisemitismus ist immer noch hier, stützt sich auf die gleichen Wurzeln, begründet sich in den gleichen Obsessionen und dunklen Abgründen des Geistes.
Über die Autorin:
Audrey Azoulay, geboren 1972, ist seit 2017 Generaldirektorin der UNESCO.