Der Thomas-Mann-Biograph Hermann Kurzke ist der Meinung, dass man ohne die »Betrachtungen eines Unpolitischen« nicht wisse, wer Thomas Mann wirklich gewesen sei. Teilen Sie diese Auffassung?
Tatsächlich wird man Thomas Manns künstlerische und politische Entwicklung kaum angemessen verstehen, wenn man die »Betrachtungen« ignoriert oder wohl gar als entweder schlimmen oder verzeihlichen »Fehltritt« betrachtet. Für die Genese seines politischen Denkens und noch mehr für die Veränderungen in seinem Verständnis von Bedeutung und Funktion des Künstlers sind die »Betrachtungen« unerlässlich. Und dennoch würde ich in den »Betrachtungen« keineswegs denjenigen Text erkennen, der zu wissen erlaubt, wer Thomas Mann »wirklich gewesen sei«. Dergleichen Texte gibt es im Werk großer Künstlerinnen und Künstler wohl ohnehin nicht; gewiss aber gilt für Thomas Mann und speziell für den werk- und lebensgeschichtlichen Status der »Betrachtungen«, was der Schriftsteller C.F. Meyer über sich selbst sagte: »Ich bin kein ausgeklügelt Buch. Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch«.
Haben die »Betrachtungen« in Ihrer Forschungsgeschichte eine wesentliche Rolle gespielt?
Nein. Wie für meine Generation typisch, habe ich die »Betrachtungen« nie systematisch gelesen, sondern in Kenntnis ihrer kriegs-apologetischen, aggressiv-nationalchauvinistischen Passagen mit Entsetzen abgewehrt.
Viel wichtiger wurde die Frage, ob Thomas Manns »Abkehr« vom Geist der »Betrachtungen« glaubwürdig oder »opportunistisch« sei; ob er auch noch als »Wanderredner der Demokratie« der »Unpolitische« blieb oder nicht. Mein Blick auf die »Betrachtungen« wurde indes nachhaltig verändert, als ich Erika Manns Einleitung zu der im Jahre 1956 von ihr besorgten Neuausgabe las und auf eine Beschreibung der mit und durch die »Betrachtungen« repräsentierten Entwicklung im politischen Denken Thomas Manns traf, die mich den Text selbst erstmals gründlich studieren ließ.
Ist Thomas Mann ein Reaktionär?
Zweifellos gibt es in den »Betrachtungen« Passagen, die mit diesem Attribut belegt werden können und müssen. Die Überzeugung, Krieg bedeute »Reinigung«, »Heilung« und »ungeheure Hoffnung« (so in »Gedanken im Kriege«, erschienen im November 1914); er sei dem Deutschen Kaiserreich zudem »aufgezwungen« worden, so dass es »nur einen wirklich ehrenvollen Platz heute (gibt), und es ist der vor dem Feind« (in »Gute Feldpost«, erschienen im Oktober 1914), begegnet bereits in Thomas Manns frühen Kriegsschriften. Als archaisch-reaktionär wird man auch die Vorstellung bezeichnen müssen, der Krieg liefere »den schwärmerischen Zusammenschluss der Nation« und werde nicht zuletzt gegen die von den Westmächten intendierte »Zwangszivilisierung« Deutschlands geführt, das auf diese Weise nicht nur die eigene, sondern jegliche Kultur verteidige; sich damit »männlich« gegen ein rachsüchtiges und bloße »Damenrechte« in Anspruch nehmendes Frankreich zur Wehr setze. In ihrer extremen kulturgeschichtlichen und geschlechterpolitischen Antithetik liefern sowohl die Kriegs-Essays als auch viele Passagen aus den »Betrachtungen« Beiträge zu der Idee, Krieg sei gerade nicht das Gegenteil, das Ende, der Untergang der Kultur, sondern ihre Bedingung.
Warum lohnt es sich, die »Betrachtungen« hundert Jahre nach Erscheinen wieder zu lesen?
Die »Betrachtungen« sind in ihrer sprachlichen Brillanz immer wieder faszinierend und in ihrer politisch-kulturgeschichtlichen Substanz immer wieder empörend; gerade deswegen sind sie eine intellektuelle, keineswegs aber eine moralisch-politische Herausforderung; sie sind als Werk »historisch«, insofern ihr Verfasser seit Beginn der Zwanzigerjahre seine republik- und demokratiefeindlichen Positionen revidiert und in vielen späteren Werken eine offensive literarische und essayistische Auseinandersetzung mit diesen historisch-zeittypischen Auffassungen unternommen hat. »Historisch« und damit als Gegenstand »historisch-politischer Bildung« unbedingt lesenswert sind die »Betrachtungen« aber auch, weil sie durch die Geschichte auf schreckliche, auf blutige Weise widerlegt wurden; weil sich das Bewusstsein für die Errungenschaften einer demokratisch-humanen Menschheitsordnung durch Konfrontation mit ihnen schärfen lässt.
Sehen Sie in der gereizten Stimmung der »Betrachtungen« eine Parallele zur heutigen Debattenkultur?
Als »Unheilsgemenge von Stumpfsinn und Gereiztheit« bezeichnet der Erzähler des »Zauberberg« die Stimmung bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die atmosphärische Vorgeschichte dieses »Weltfestes des Todes« lässt Thomas Mann seinen Erzähler ebenso präzis wie kritisch diagnostizieren.
In der Tat sind die »Betrachtungen« stilistisch und argumentativ, sprachlich und gedanklich auf weite Strecken von einem Ton nervöser Gereiztheit, aggressionsfreudiger Demontage des »Zivilisationsliteraten« und lustvoller Provokation getragen. Die medial aufgebauschten, sprachlich nicht selten erbärmlich unterkomplexen und argumentativ kaum originellen Positionen in der gegenwärtigen »Debattenkultur« hingegen mögen von großer Gereiztheit zeugen, vor allem kokettieren sie auf absurd-gefährliche Weise mit Vorstellungen, die uns schon einmal in die Katastrophe geführt haben; hier eine Parallele zu den »Betrachtungen« zu konzedieren, wäre wohl doch zu viel der Ehre!
Gibt es im Werk Thomas Manns einen Text, den Sie als Gegenstück zu den »Betrachtungen« auffassen würden?
Ich könnte hier viele essayistische und literarische Texte nennen; das beginnt bei der Republik-Rede des Jahres 1922 (»Von deutscher Republik«), führt über die Wagner-Rede des Jahres 1933 (»Leiden und Größe Richard Wagners«) und reicht bis zur radikalen Abrechnung mit der in den »Betrachtungen« so beredt gefeierten »deutschen Innerlichkeit« im »Doktor Faustus« (1947), in der Rede »Deutschland und die Deutschen« (1945) und schließlich in dem großen biographischen Essay »Meine Zeit« (1950). Wenn man akzeptiert, dass die »Betrachtungen« – wie problematisch im Detail auch immer – der Versuch einer »lange(n) Erkundung der konservativ-nationalen Sphäre in polemischer Form« (so Thomas Mann wörtlich in dem erwähnten Essay »Meine Zeit«) gewesen sind, dann führt diese »Erkundung« gleichsam folgerichtig zur »Abkehr« von dieser »Sphäre«. Thomas Mann konnte gar nicht ignorieren, dass seine »Erkundungsversuche« bei Erscheinen des Werkes obsolet geworden waren. Der so schwärmerisch bejubelte Krieg hatte millionenfachen Tod und furchtbare Zerstörungen gebracht; während der so heftig bekämpfte »Zivilisationsliterat« in Gestalt des eigenen Bruders bei Kriegsende die literarische Diagnose für diese Katastrophe, nämlich den alsbald zum Bestseller avancierenden Roman »Der Untertan«, veröffentlichen konnte.
Andererseits: Bereits der zeitgleich mit der Fertigstellung der »Betrachtungen« vorangetriebene »Zauberberg« enthält u.a. in den Wortgefechten zwischen Naphta und Settembrini die Auseinandersetzung mit Positionen der »Betrachtungen« bzw. ihre »Überwindung«. In der Gestaltung der »diskursiven Herrenabende« im Kridwiß-Kreis des »Doktor Faustus« wird sich dies wiederholen.
Kurzum: In existenzieller, in künstlersicher und schließlich in politischer Hinsicht dürfen Leben und Werk ihres Autors seit Beginn der Zwanzigerjahre als »Gegenstück«, als »Antwort« auf die »Betrachtungen« verstanden werden; als Abkehr von der viel beschworenen »Sympathie mit dem Tode« und Hinwendung zur Idee einer »Lebensbürgerlichkeit der Kunst« und des Künstlers.
Irmela von der Lühe
Irmela von der Lühe, geboren 1947 in Berlin, ist Professorin (a.D.) für Neuere deutsche Literatur, Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bände. Sie hat sich vor allem mit der Literatur der Moderne beschäftigt, wobei die Familie Mann, insbesondere Erika Mann, immer wieder im Zentrum stand. U.a. ist sie Verfasserin einer Biographie Erika Manns.