Hinter den Kulissen

Hosemanns Papierkorb

Jürgen Hosemann ist Lektor. Am Ende des Tages landen Notizen über Literatur, das Verlagswesen oder Autorschaft in seinem Papierkorb – und wir fischen diese nur zu gern wieder heraus (in Zukunft auf Twitter unter #HosemannsPapierkorb). Doch wer ist der Lektor Hosemann? Einer seiner Autoren war Roger Willemsen, der diesen Text über seinen Lektor schrieb.

#HosemannsPapierkorb
© Jürgen Hosemann

Die Raupe

Es ist dem Autor von seinem einzigen Konkurrenten, dem Schöpfer, ein Lektor mitgegeben. Dieser Lektor müsste eigentlich wie eine mittelalterliche Stifterfigur in verkleinerten Proportionen unten im Bild stehen, frömmelnd vor sich hin sehen und wissen, was er getan hat. Ein guter Lektor tut viel. Er liest all das Schadhafte und Fadenscheinige weg. Hat die Jacke drei Arme, fällt es ihm auf, ist die Seide bloß Viskose, schüttelt er, ganz gute Hausfrau, darüber den Kopf und zeigt aufs Etikett. Hat man sich eingesaut, lässt er einen so nicht aus dem Haus.

Mein Lektor Jürgen Hosemann ist ein guter Lektor, das heißt ein idealer Leser. Er besteht nicht darauf, dass ich das schreibe. Er toleriert es eher, vermute ich, denn dieser Text ist seit Jahren der erste, der nicht durch seine Finger geht. Ich habe ihm angekündigt, hier über die Stränge schlagen zu wollen, auszupacken, zu »singen«, wenn nicht sogar – ich glaube, ich sagte – »die Sau rauszulassen«. Er quittiert solche Aussagen am Telefon mit einem Geräusch, das geeignet ist, einen Halbstarken zu beschwichtigen. Er gönnt mir meine unreife Jugend, Hauptsache, die Syntax stimmt.

Ruft mich mein Lektor an, was er bisweilen auch »einfach so« tut, meldet er sich immer mit: »Jürgen Hosemann, S. Fischer Verlag«. Diese Angabe scheint ihm wichtig: Ich könnte ja einen anderen Jürgen Hosemann in einem anderen Unternehmen kennen und, aufschreckend von der Arbeit, gleich wissen wollen, um welchen dieser tückischen Zwillinge es sich handelt. Oder aber, ich könnte diesen einen von allen anderen Jürgen Hosemanns meines Lebens zwar zu unterscheiden wissen, wäre aber gewiss froh zu hören, dass er, der Loyalste schlechthin, immer noch für den S. Fischer Verlag tätig ist, während man bei Joschka Fischer ja auch nicht weiß, ob er gerade für REWE, Madeleine Albright oder die russische Gasindustrie arbeitet. So ist Jürgen Hosemann nicht. Nie liebäugelte er mit der russischen Gasindustrie. Er ist mein Lektor, wir haben Lebenslänglich.

Begonnen haben wir vor Jahren auf dem Bonner Marktplatz, wo wir uns verabredet hatten, um ein paar Kleinigkeiten im Zusammenhang mit der Übernahme einer Taschenbuchlizenz der »Deutschlandreise« zu besprechen. Wir saßen draußen, aßen Kuchen. Herr Hosemann bewies Appetit und Moral. Den Appetit ließ er an dem Kuchen aus, die Moral an mir. Das Buch sei in seiner Hardcover-Ausgabe miserabel lektoriert, ließ er mich wissen. Ich nickte. Es enthalte zahlreiche Druckfehler. Ich nickte. Man müsse es eigentlich komplett neu setzen. Ich widersprach nicht, dachte aber, er meint »neu schreiben«. 

In seiner Rede, die er konzentriert vor allem an seinen Kuchen richtete, brachte er so beharrlich den »S. Fischer Verlag« unter, als ob ich diesen rechtzeitig von den »A-R-« sowie den »T-Z-Fischer-Verlagen« unterscheiden lernen sollte. Als wir uns verabschiedeten, hatte ich Respekt vor dem S. Fischer Verlag, dem S. Fischer-Verlags-Lektor Jürgen Hosemann und dem S. Fischer-Verlags-Autor, der ich selbst künftig sein würde. Im Motorsport nennt man so etwas »Druckbetankung«. Hier umfasste es vor allem Kuchen und Respekt und fühlte sich gut und richtig an.

Als Jürgen Hosemannn zum ersten regelrechten Lektorat anreiste, dachte ich: Das wird bestimmt wieder so einer sein mit willkürlichen Interventionen gegen gut erwogene Sätze. Er dachte: Das ist bestimmt auch wieder so einer, der sich nichts sagen lässt. Zwei Tage später hatten wir uns beide korrigiert, und ein Manuskript weiter fragte ich ihn jungmädchenhaft: »Herr Hosemann, würden Sie bei diesem Buch wieder mein Lektor sein, bitte.« Er murmelte eine Art Bestätigung, durch die seine Freude fiel wie die Dämmerung durch eine Klofensterscheibe.

Inzwischen, also Jahre später, arbeiten wir nach den immer selben Ritualen. Habe ich ein Manuskript abgegeben, wird weder telefoniert noch werden Mails gewechselt. Wochen später steht Herr Hosemann dann am vereinbarten Tag im Zimmer, hält einen knappen Monolog über das Manuskript, unterstreicht in Gestik und Intonation bestimmte Beobachtungen, die er bisweilen mehrfach wiederholt – ja, er ist ein Didaktiker, und wenn wir uns streiten, dann darüber, dass ich es zu wenig bin, findet er –, dann setzen wir uns an den langen Tisch und wenden Seite für Seite.

Dies ist die Blütezeit des Lektors. Ich mag lange geschrieben haben, jetzt ist die Stunde da, das Geschriebene einzufahren. Dabei hat auch Herr Hosemann seine Ansprüche. Harte Bleistifte müssen her. Schaffe ich aus meinen Verliesen vierzig Bleistifte vom Typus »HB«, »4B« oder »2B« heran, verachtet er sie einzeln, einen nach dem anderen, wie einen falschen Konjunktiv oder einen Charakterfehler. Zeige ich ihm die Aufschriften ferner Hotels auf dem Schreibgerät, verwirft er, der für jede Bizarrerie des Exotischen empfänglich ist, dies mit äußerster Verachtung: »Herr Willemsen, Sie sehen doch, dass es sich nicht um einen harten Bleistift handelt.« Was er akzeptiert, sind Härten ab »3H«, was Hersteller als »sehr hart« angeben, wenn nicht »für Spezialzwecke«. Das heißt, im Bleistift stellt sich ein symbolisches Verhalten zum Text dar. Alle diese falschen Bleistifte aber spitzt er trotzdem mit meinem alten Anspitzer, als wolle er sie auf diese Weise in den Stummel-Tod treiben. Einmal fasste er anschließend sogar in das Häufchen Zedernholzkringel und fragte: »Und wissen Sie, wie die heißen? Bleistiftspäne.«

Die weiteren Anforderungen des Lektorats liegen im Kulinarischen. Um die Arbeit nicht unterbrechen zu müssen, essen wir bei mir, das bedeutet: Ich koche vor. Bewährt hat sich ein Gemüseeintopf, dem ich mit roten Linsen, Cumin und Garam Masala eine indische Note gebe. Diesen Matsch essen wir bei Bedarf drei Tage lang. In ein Restaurant gehen wir anschließend nie. Das sei, findet Herr Hosemann, nach einem solchen Tag uns beiden nicht zumutbar. Dabei ist er ein guter, eine Hausfrau würde sagen, »ein dankbarer Esser«. Ich nenne ihn auch »die Raupe«.

Im Verlag hatte einmal eine Angestellte ihre Geburtstagstorte auf den Flur gestellt, damit jede und jeder sich ein Stück herunter schneiden könnte. Herr Hosemann tat dies und lobte mir gegenüber besonders die Marzipan-Kuvertüre, bis ich ihn belehrte, es handele sich um das Stearin, das beim Ausblasen der Kerzen verlaufen war. Anders gesagt: Er isst alles. Kuchen mit allem, Texte mit allem. Diesen gegenüber ist Jürgen Hosemann dagegen ungleich sorgfältiger. Da kann ich ihm kein Stearin für Marzipan vormachen. Er liest in alle Himmelsrichtungen, in die Weite, in die Tiefe der Erzählung, in die Motivik und Semantik, der Dramaturgie folgend oder der Thermik. Ja, er ist ein leidenschaftlicher Leser, und sein Arbeiten ist ein Nach-Schaffen des Textes, deshalb ist seine Beteiligung hoch und seine Konzentration zehrend.

Als mich die Kunsthalle Emden einmal bat, für eine Realismus-Ausstellung einen Gegenstand aus meinem Leben zu schicken, den man in Kunstharz gießen wolle, nachdem ich beschrieben hätte, warum er »Realität« für mich verkörpere, hatte Jürgen Hosemann das Haus nach langem Lektorat gerade verlassen. Ich griff unter den Tisch und versammelte die halbe Handvoll Flusen, die als Abrieb des Teppichs bei seiner Fußarbeit zurückgeblieben waren. »Das«, schrieb ich, »ist meine Realität«. Die Flusen des Hosemann zierten für Monate eine Vitrine in Emden.  

Was die Realität des Herrn Hosemann ist, weiß ich nur unvollkommen. Er liebt die spezifisch wesenlosen Landschaften an den Bundesstraßen, er lässt sich von Reiseliteratur tragen, und wenn er selbst reist, weiß ich, dass er es mit gutem Blick tut, äußerst empfänglich, aber behutsam, gewiss als Flaneur. Er wurde im Publikum bei Poetry Slams gesehen, dementiert aber, dort gewesen zu sein. Einmal hat er sein Töchterchen auf den Schultern durch einen Buchmessenflur getragen, und alle Herzen flogen ihm zu. Da sind sie immer noch. Ich kann ihm ansehen, dass er sich manchmal vor der eigenen Sentimentalität schützen muss, und dass er empfänglich ist für alles, was in Texten aus Mangel besteht. Er lacht raffiniert. Er ist empathisch aus Reflex. Er lässt gewähren. Er beharrt. Seine Pausen stehen manchmal lange. Er hat eine Moral. Er hungert. Erst mit den Jahren habe ich begriffen, dass man Charakter haben muss, um so ein guter Lektor zu sein. 

 

Dieser Text erschien im Materialienband zum Werk von Roger Willemsen »Ein leidenschaftlicher Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. 

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