1 Stanford, Kalifornien
2013 hatte Richard Powers einen Job in Stanford. In New York war ein Schneesturm niedergegangen, es war Februar und spinnenkalt, aber sechs Flugstunden später, in Kalifornien, war es sonnig und warm wie am Mittelmeer. Im Silicon Valley, an einer der berühmtesten Universitäten der Welt, unterrichtete Richard Powers ein Semester lang Literarisches Schreiben – auf einem riesigen Campus umgeben von den Firmensitzen von Google, Apple und Facebook. Es gibt vielleicht keinen anderen Ort der Welt, der so viel Zukunft zu fassen scheint. Stanford ist einer der Gründe, warum die Firmen hier ihre Hauptsitze haben, die Studenten müssen nur über die Straße zu ihnen kommen. Und deshalb ist Stanford eine der bestausgestatteten Universitäten der Welt. Wir laufen über den riesigen Campus, über gepflegten Rasen wie im Film, vorbei an Gebäuden und Bibliotheken, die wie mexikanische Klöster wirken, vorbei an technischen Labors und Rechenzentren, die wie zu groß geratene Legosteine in der Landschaft liegen.
Powers ist wie kein Autor seiner Generation in beiden Welten zuhause, dem Labor und der Bibliothek, dem Wissen und den Gefühlen. Jahrzehntelang war er an der Universität Urbana südlich von Chicago Writer in Residence in einer Arbeitsgruppe, die Quellcodes für das Internet schrieb. Sie liegen noch heute tief verborgen in der Programmstruktur des Web. Urbana liegt in der Prärie, alles ist flach und voller Gras, aber hier stehen wir plötzlich vor einer Allee exotischer Bäume, deren Sammlung jeden Botanischen Garten stolz gemacht hätte. Einer sticht besonders hervor, der Flaschenbaum, dessen mannshoher kerzengerader Stamm mit Dornen bewehrt ist und Wasser speichern kann, so dass er bald einer gurkenförmigen Walze, bald einer Amphore gleicht. Er steht in Wüstengebieten und speichert so Wasser – etwas, das auf diese Art kaum ein anderer Baum kann. Powers besitzt ein enzyklopädisches Wissen, kein Wunder, dass er auch das weiß, aber das Buch, über das wir damals sprachen, war »Orfeo«, noch waren die Bäume als Thema gar nicht in seinem Blick, sondern Musik, Aufmerksamkeit und Avantgarde.
2 Methusalem
Am Nachmittag machten wir eine Wanderung oberhalb von Stanford – und hier stießen wir auf den eigentlichen Grund, warum Richard die teaching position angenommen hatte: 15 Minuten oberhalb des Silicon Valley stehen Redwoods, die Bäume, die einst die ganze kalifornische Küste entlang gewachsen sind, die die Größe von »Mammutbäumen« erreichen können, wie wir sie meist nennen.
Überall in Amerika kann es einem passieren, dass man plötzlich am Rand der Wildnis zu stehen meint: An der nördlichen Spitze von Manhattan gibt es Adlerhorste am Hudson, hier warnen uns Schilder vor Pumas und geben Tipps, wie man sich bei einer Begegnung zu verhalten habe (nicht umdrehen, Mantel oder Jacke aufknöpfen, die Arme ausbreiten und sie unverwandt anstarren).
Und dann stehen wir tatsächlich vor Methusalem – einer der wohl tausend Jahre alten Bäume. Sein Holz wurde nicht zu Eisenbahnschwellen für die Bahnlinie über die Rocky Mountains zersägt, mit der der Gründer der Stanford University reich geworden war. Der Baum hatte den Goldrausch, den Kahlschlag zum Aufbau des 40 Kilometer entfernten San Francisco im 19. Jahrhundert wie den zweiten Kahlschlag zum Wiederaufbau der Stadt nach dem großen Erdbeben 1906 überstanden. Nur einem Blitz konnte der Baum nicht ausweichen, der ihn, der vielleicht 140 Meter hoch gewesen war, auf die Hälfte kappte.
Wir stehen unter dem Baum, gehen um ihn, bohren unsere Finger zwischen die Rinde, fallen fast hintenüber, als wir mit den Augen den höchsten Wipfel zu erkennen versuchen – der Baum hat eine Dimension wie sonst nichts, was wir in unseren Leben gesehen haben.
Wir wanderten durch die Hügel um den Baum, durch das struppige Strauchwerk, das den Boden fast überall bedeckte und die Bäume mit einer Dornenhecke umgab, die Manzanita. Wir fanden keinen Puma, aber wieder zu Methusalem zurück.
3 Zürich
Vier Jahre später sehen wir uns im November 2018 in Zürich wieder. Methusalem hatte Richard Powers nicht losgelassen. Vom Rauschen der Datenströme, der Geometrie der Zahlen und der unendlichen Vielfalt der menschlichen Imagination gebannt, hatten seine Romane meist davon gehandelt, wie der Mensch das Wissen in sein Leben übersetzen kann. Die alte Frage von Novalis, welche emotionale Färbung das Wissen annehmen kann, bildete seine Perspektive. Er schrieb über künstliche Intelligenz, DNA und die Erforschung der Erinnerung.
Doch jetzt war der Mammutbaum, seine stille Größe, zum Keim eines Romans geworden. Statt der Imagination der Menschen ging er der Erfindungskraft der Natur nach, die den Stamm des Flaschenbaums zu einer Amphore machte. Und je mehr er über die Bäume las, desto drängender wurde das Thema für ihn. Ihm wurde klar, dass die Hügel mit den Redwoods oberhalb von Stanford nur die kläglichen Überreste eines riesigen Waldes waren, der sich einmal von der Ost- bis zur Westküste Amerikas erstreckt hatte.
Jener stille Moment unterhalb der gewaltigen Baumkrone hallte in ihm nach, bis er eine Geschichte hatte, in der eine Gruppe von Umweltaktivisten in die Bäume klettern und die letzten Redwoods und ihre Methusalems vor dem Abholzen zu bewahren: Die Wurzeln der Welt.
Nun, fünf Jahre nach dem Besuch in Stanford, war das Buch fertig, und Richard war nach Zürich gekommen, um daraus zu lesen. Aber zuerst wollten wir ein paar Bäume sehen und gingen aus der Innenstadt an den See. Riesige Platanen säumten das Ufer. Richard hob eines der großen heruntersegelnden Blätter auf und zeigte mir, dass der Stiel an seinem Ansatz eine spitz zulaufende Hülse bildete. Im Schutz dieses Futterals wächst die junge Knospe heran, die im nächsten Jahr das Blatt bildet und so bis zum Fallen des Laubs spät im Herbst geschützt bleibt. Das ist ein Grund, warum sich Platanen besonders als Straßenbäume eignen – sie sorgen besser für sich. Verwundert betrachtete ich noch einmal den Stiel, drehte das Blatt um seine Achse und ließ es in die Limmat wehen.
In den nächsten Tagen wird Powers auf der Reise immer wieder, in Stuttgart, Mainz, Wiesbaden, Köln und Wien, auf Bäume hinweisen, die etwas können, was sonst kein anderer Baum kann. Geschweige denn wir, und diese Differenz ist der Motor seines Buches: das Staunen über die weitgreifende Beziehungsgeflecht der Bäume untereinander, die Kommunikation, zu der sie über ihre Wurzeln fähig sind, die Erkenntnis, dass sie nicht in Gruppen beieinander stehen, sondern aktive Gemeinschaften bilden. Und der Schrecken, dass wir dieses Zusammenspiel ein ums andere Mal unterbrechen, zerschneiden, zerstören. Bis wir wie in Stanford in einem schütteren Park stehen, dem Rest von dem, was wir uns selbst an Natur noch zugestehen.
Hinter den Kulissen
Unterwegs mit Richard Powers
Im November 2018 stellte Richard Powers auf der Lesereise seinen neuen Roman »Die Wurzeln des Lebens« vor. Er sprach über den Hambacher Forst und die eine Geschichte, die unsere Literatur fast verpasst hätte, während sie vor dem Fenster passierte: das Verschwinden der Natur. Richard Powers Lektor Hans Jürgen Balmes konnte in Momentaufnahmen die Entstehung des Romans miterleben.
