Interviews

Ein Gespräch mit Violaine Huisman

In »Die Entflohene« erzählt Violaine Huisman die Geschichte ihrer manisch-depressiven Mutter – und schreibt grandiose Literatur. Die Autorin im Gespräch.

Wann kam Ihnen zum ersten Mal der Gedanke, über Ihre Mutter zu schreiben?
Als ich mir das erste Mal bewusst gesagt habe, dass ich schreiben will, war auch klar, dass ich über meine Mutter schreiben muss. Sie steht für mich über allem, ihre Person ist mein großes Thema. Sie hat in mir die Lust an der Literatur begründet. Seit frühester Kindheit hat ihre Stimme bewirkt, dass ich anders lese. Lesen war nicht einfach eine Schulübung oder zum Zeitvertreib gedacht. Ihre Art zu sprechen, sich auszudrücken war tief poetisch, ausdrucksstark, hatte etwas Romanhaftes, fast Episches, das stillschweigend, ja sogar allwissend in allen Texten mitschwang, die sie mir zu lesen gab, wie ein unsichtbarer Kommentar, der jedes Buch begleitete.

Hat Ihnen die Distanz von New York geholfen, sich mit der Geschichte Ihrer Mutter zu befassen?
Die Distanz hat mir sicher geholfen, zu leben, mich mit meiner Geschichte zu befassen und der meiner Mutter, und im weitesten Sinne der meiner Familie. So konnte ich mich unabhängig von allem entfalten ohne jedoch das Vergangene zu verwerfen. Ich lebe seit meinem neunzehnten Lebensjahr in New York, in diesem Jahr sind es zwanzig Jahre. Ich fahre regelmäßig nach Paris – in der Regel besuche ich alle zwei bis drei Monate meine Angehörigen. Ich liebe den großen Abstand, das Leben an zwei Ufern, auch das zwischen zwei Sprachen.

Als Kind haben Sie Gedichte geschrieben, warum ausgerechnet Gedichte und keine Prosa?
Vielleicht habe ich auch Geschichten geschrieben, ich weiß es nicht mehr genau. Ich glaube aber, dass Dichtung Kindern näher ist – Kinder lieben die Magie der Sprache, das Leuchten der Verse, Dichtung ist besser zu greifen, zu verstehen. Erzählungen haben bei Kindern nicht zwangsläufig Vorrang. Das Spiel mit den Wörtern, die Schönheit ihres Klangs machen Lust, etwas zu erschaffen.

Haben Sie so etwas wie Hass gegenüber Ihrer Familie empfunden? Ihre Kindheit war mitunter sehr schwer.
Nein, überhaupt nicht. Ich habe nicht den Eindruck, eine schwere Kindheit gehabt zu haben, im Sinne eines furchtbaren Schmerzes, der sich zu Hass entwickelt. Jeder von uns liebt und hasst abwechselnd seine Familie, das ist menschlich, nicht außergewöhnlich. Ich habe unter ungewöhnlichen Bedingungen gelebt, manchmal sehr schmerzhaften, aber ich habe mich immer unendlich geliebt gefühlt, und ich glaube – das ist auch das, was ich in meinem Buch zum Ausdruck bringen möchte –, dass die Zuneigung und Liebe meiner Eltern mir ermöglicht haben, die Kraft und das Vertrauen zu entwickeln, mich in die Welt und unter die Menschen zu begeben.

Haben Sie, bevor Sie »Die Entflohene« geschrieben haben, mit Ihrer Schwester und Ihrem Vater über das Roman-Projekt gesprochen?
Ja, ich habe mit ihnen gesprochen, und beide haben mich von ganzem Herzen und vorbehaltlos darin bestärkt.

Mussten Sie über das Leben Ihrer Mutter recherchieren? Oder wussten Sie bereits alles aus ihren Erzählungen?
Meine Mutter hat mir ihr Leben mit ungewöhnlicher Leidenschaft erzählt, bis in die aufwühlendsten, intimsten Details. Ich wollte auch gar nichts recherchieren. Wie ich auch in »Die Entflohene« schreibe, wollte ich nicht auf Grundlage persönlicher Daten und Dokumente die Realität abbilden, sondern ich wollte genau umgekehrt, die Realität in die Fiktion überführen, ins Romanhafte, um die Realität mittels der Fiktion sprechen zu lassen.

Was haben Sie von Ihrer Mutter gelernt?
Was man von seiner Mutter lernt, ist zu umfangreich, um es im Rahmen eines Interviews wiederzugeben. Aber meine Mutter hat mir beigebracht, sich nicht um Konventionen zu scheren, sich nicht mit dem Durchschnitt zufriedenzugeben, sich nicht auf Heuchelei einzulassen, aufs Mittelmaß. Sie hat mir beigebracht, immer einen Schritt weiter zu gehen, dorthin, wo die Wahrheit einem ins Gesicht peitscht, man in schallendes Gelächter ausbricht oder emotional erschüttert wird. Und, bezüglich des Schreibens, ins Schmerzhafte vorzudringen, Sätze zu finden, die man gewöhnlich nicht sagt, dafür aber mit messerscharfer Präzision, die das Herz bluten lässt.

Haben Sie den Eindruck, Ihrer Mutter mit zunehmendem Alter zu ähneln?
Ich glaube, dass ich ihr immer ähnlicher werde, seitdem ich selbst Mutter bin, noch dazu von zwei kleinen Mädchen. In meinem Mutterdasein erkenne ich ihr Vermächtnis.

Ist es wahr, dass man mit zunehmendem Alter immer großzügiger auf das Vergangene zurückblickt?
Das wäre schön. Ich versuche jeden Tag großzügiger zu werden, egal wohin mein Blick fällt.

Ihre Mutter hat sehr unter der mangelnden Liebe der eigenen Mutter gelitten, glauben Sie, dass man so ein emotionales Defizit im Laufe des Lebens ausgleichen kann?
Es gibt sehr gute psychologische Untersuchungen dazu, vor allem von Donald Winnicott und John Bowlby, die zeigen, dass ein Kind, dass zu wenig oder keine Empathie erfahren hat, lebenslang gezeichnet ist und den Mangel nie überwinden wird. Es gibt jedoch Abhilfe, manchen gelingt es, damit fertig zu werden, ein mehr oder weniger stabiles Leben zu führen, aber die meisten der Spezialisten glauben, dass man emotionale Defizite nie ausgleichen wird, wenn sie zu Beginn eines Lebens erfahren werden.

Würden Sie trotzdem sagen, dass Sie eine glückliche Kindheit hatten?
Ich behaupte sogar, dass ich eine strahlende Kindheit hatte, zuweilen überaus glücklich, manchmal war die Verzweiflung der anderen sehr bedrückend, aber es war eine Kindheit voll außergewöhnlicher Erfahrungen, voller Liebe und Freundschaften, Gedichte und Zuneigung. Kurz – ich hatte eine sehr privilegierte Kindheit.

Sie und Ihre Schwester waren sich als Kinder sehr nahe, sind Sie es noch?
Ja, meine Schwester und ich stehen uns sehr nahe.

Wer war der erste Leser Ihres Buches?
Mein allererster Leser war ein sehr lieber Freund, den ich schon lange kenne, der mal Lektor ist, mal Buchhändler, mal Kritiker, und bei allem sehr feinsinnig und feinfühlig. Er hatte vor zehn Jahren schon mal eine Version meines Buches gelesen. Mir war es wichtig, die Meinung von jemandem einzuholen, der den Kontrast beider Versionen ermessen konnte.

In Ihrem Buch ist die Mischung aus Humor und Schonungslosigkeit genial, unvergleichlich. Ist das eine Lebensart, die Sie von Ihrer Mutter gelernt haben?
Meine Mutter konnte, wie ich es im Buch beschreibe, unglaublich witzig und unendlich traurig sein. Ich wollte, dass der Text diese Berg- und Talfahrt der Gefühle, die man mit ihr erlebte, widerspiegelt.

Der Zweite Weltkrieg hat viele Menschen traumatisiert, ebenso auch Ihre Mutter, die eine schmerzhafte Biographie hat. Glauben Sie, dass sich Traumata von einer Generation zur nächsten übertragen?
Ja, ich bin mir sogar sicher, dass persönliche wie auch historische Traumata überliefert werden. Seit einigen Jahren weisen neurologische Studien epigenetische Folgeschäden bei Nachkommen Deportierter nach. Das bedeutet, dass man die Angst der Shoa genetisch erben kann. Auf jeden Fall ist das in meiner Familie der Fall, besonders bei der meines Vaters, der den Zweiten Weltkrieg unter einem Decknamen überlebt hat, er ist Jude. Jedes Mal, wenn wir in Urlaub fuhren, schien es, als durchlebe er den Exodus neu.

Wie lange haben Sie an »Die Entflohene« geschrieben?
Dieser Text hat mich Jahre lang verfolgt und besetzt – ungefähr zehn Jahre – aber als ich dann anfing, die vorliegende Version zu schreiben, war es, als wäre ein Damm gebrochen. Ich habe das Buch innerhalb weniger Monate geschrieben, vier oder fünf, und dann habe ich es mit meiner Lektorin bei Gallimard, Maud Simonnot, überarbeitet. Sie hat sehr dazu beigetragen, die Feinheiten und Nuancen hervorzuheben und den Text zu straffen.

Glauben Sie, dass Schreiben eine andere Art der Therapie ist?
In einem gewissen therapeutischen Rahmen, in einer sozusagen klinischen Schreibwerkstatt kann es helfen, wenn Menschen mit Leidensdruck die eigenen Erfahrungen in Worte fassen und so den Schmerz transzendieren und eine Distanz dazu herstellen. Um jedoch einen literarischen Text zu schaffen, muss die nötige Distanz bereits da sein, damit das Schreiben kein therapeutisches wird. Im Gegenteil, hat der Autor den nötigen Abstand, kann er das Erlebte neu entstehen lassen. Ein Schauspielerfreund, der mir bei der Vorbereitung von Lesungen half, hat mir einmal gesagt, dass nicht ich selbst etwas fühlen muss, sondern das Publikum. Das gilt vielleicht auch fürs Schreiben: Sollte es eine therapeutische Funktion haben, hat es dies später vielleicht auch für den Leser.

Sie haben großen Erfolg mit Ihrem Roman. Hat das Ihr Leben verändert, Ihren Blick auf Ihre Mutter, Ihre Familie?
Ich lebe in den USA, wo das Buch noch nicht erschienen ist. Der Erfolg in Frankreich hat mich sehr berührt, aber er hat keinen Einfluss auf mein alltägliches Leben. In meiner Mutter habe ich schon immer auch eine Romanfigur gesehen, und dass sie es nun wirklich geworden ist, ist verrückt, überwältigend und magisch.

Haben Sie sich in die Krankheit der Bipolarität einarbeiten müssen?
Ich habe viele psychologische Bücher gelesen, auch zur Bipolarität.

Schreiben Sie noch immer Gedichte?
Oh nein, heute glaube ich nicht mehr an mein dichterisches Talent.

Können Sie überall schreiben oder müssen Sie bei sich zu Hause sein?
Wenn ich konzentriert bin, kann ich überall schreiben, mit meinen Kindern in einem überfüllten Zug!

Haben Sie schon eine Idee für ein nächstes Projekt?
Ja, und ich hoffe, dass ich dieses Projekt erfolgreich zu einem Ende bringe. Das ist eine Idee, die schon lange in mir reift. Es fällt mir schwer, daran zu arbeiten, aber ich versuche, es positiv zu sehen.

Fragen und Übersetzung aus dem Französischen von Isabel Kupski.

Violaine Huisman

Violaine Huisman

Violaine Huisman lebt seit 20 Jahren in New York, wo sie Literaturfestivals organisiert, als Lektorin arbeitet und aus dem Amerikanischen ins Französische, u.a. David Grann und Ben Lerner, übersetzt. Für ihren ersten Roman »Die Entflohene« wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.