Reinhard Kaiser-Mühlecker:
»Täglich fährt er hinaus vor die Stadt, durchquert bis Einbruch der Dunkelheit den großen Wald. Er dehnt seine Wanderungen immer weiter aus, marschiert bis tief in die Nacht. Danach ist die Stadt ein glänzendes Gestell, Augen wie Lichter, flutende Körper. Eines Abends, er hat alles vergessen, geht [er] eine dunkle Straße entlang und steht knietief in einem dunklen, von Schnellstraßen durchzogenen Wald. Große Steine gibt es dort. Felsen, kaum knöchelhoch, und über allem die Stille eines schwarzen Vogels, dessen Auge dunkel glänzt.«
Nachdem ich Deine ›Fliehende Landschaft‹, das ein erzählendes Werk ist, gelesen hatte, habe ich Deine Prosa-Bücher oder Bücher mit Prosaminiaturen gelesen. Oft stehen da nur wenige Sätze oder Absätze auf einer Seite – von einer solchen Schönheit wie die oben zitierten; aber es bleibt nicht bei der bloßen Schönheit. Nach dem Lesen öffnen sie sich, als stehe dort weit mehr als bloß diese paar Zeilen. Sie zeigen mir, was Literatur ist: mehr als nur Inhalt. Ich habe mich oft gefragt, wie Du das geschrieben hast. Eines nach dem anderen, mit dem Vorsatz, daraus ein Buch zu machen? Oder sind sie über Jahre hinweg entstanden, zwischen größeren Prosaarbeiten?
Wolfgang Hermann:
Die kurzen Texte aus ›Das Gesicht in der Tiefe der Straße‹ entstanden großteils 1990 bis 92 während meiner Pariser Zeit. Ich schrieb sie meist unterwegs, auf der Straße, in der Metro, beim Gehen durch die Vorstädte. Ich schrieb sie schon mit Blick auf dieses Buch, gruppierte sie dann zu einzelnen Kapiteln. Sie entstanden neben den größeren Projekten wie ›Paris Berlin New York‹ oder ›Die Farbe der Stadt‹, ›In kalten Zimmern‹. Ich war damals viel auf Reisen, lebte mehr oder weniger aus dem Koffer in ständig wechselnden Quartieren, hatte immer einen Haufen Hefte und lose Blätter bei mir. Es ist sehr schön, was Du sagst: »Was Literatur ist: mehr als nur Inhalt«. Ja, für mich ist Literatur vor allem die zweite, innere Welt, die hinter den Buchstaben entsteht, wenn ich lese. Sie ist ein Land der Freiheit, denn jeder Leser erschafft in sich seine eigene Welt. Manchmal aus Hauch, aus Ton, manchmal, bei den härteren Büchern, aus Stahl, aus Asche, aus Gewalt. Aber es ist ein Land der inneren Reise, ein Land der Weite und Freiheit. Deine Bücher zeigen das von Anfang an. Dein ›Der lange Gang zwischen den Stationen‹ ist ein einziger langer Atem, und mit diesem Atem entsteht Bild für Bild eine innere Weite und eine Farbe, ein Ton. Auch der Ton der Beklemmung, der Enge und Verzweiflung, aber indirekt, wie hinter den Dingen, wie Schatten, die hinter einem Segel vorbeigehen, das ihre Konturen durchscheinen läßt. Ein wunderbares Buch. Nach zwei weiteren, eher kleineren Büchern hast Du ein großes Epos vorgelegt: ›Roter Flieder‹. Dieses Buch ist ein gewaltiger Gesang auf eine Generationenfolge auf dem österreichischen Land. Darin beschleunigst Du Dein Schrittmaß, läßt Bild für Bild aufeinander folgen und sich zu einem großen vielfarbigen Gemälde einer Epoche gruppieren. Und Du gehst noch weiter: Du läßt das Schicksal wirken. Wie an einer Fessel folgen die Kinder und Kindeskinder, ihr Leben, ihr Schicksal nach der Kriegsschuld des ersten Ferdinand Goldberger. Dieses Buch ist ein großes Epos, ich habe es staunend und voller Bewunderung gelesen. Die Personen darin sind so plastisch, so voller Leben, man atmet und bangt mit ihnen mit, auch wenn ein großes Schweigen sie einschließt, sie nicht aufkommen läßt. Niemand zeigt das so zwingend wie Du in Deinen Büchern: das Nicht-Auskommen aus der Enge mancher Augenblicke, aus den Fesseln einer Landschaft, in die man hineingeboren wurde.
Reinhard Kaiser-Mühlecker:
Ja, vielleicht ist es wirklich nicht wichtig, ob man im Sitzen oder im Stehen oder überhaupt gleich im Gehen schreibt, wenn man von dem, was man schreibt, durchdrungen ist. In letzter Zeit las ich wieder einige Bücher von zeitgenössischen osteuropäischen Schriftstellern. Da ist dieses Durchdrungensein sehr stark, und manchmal kommt mir da der Gedanke, diese Autoren wären näher an der Wahrheit dran als wir, als wüssten sie besser, wie man darstellt, wie man zeigt. Als wären sie näher dran auch noch am Erzählen selbst. Denn es ist doch etwas Einmaliges, Unbekanntes durch Schrift in sich aufzunehmen und es zu so etwas wie Bekanntem, zumindest Vertrautem zu machen. Lebenswelten: Gibt es davon, immer noch, auch bei uns, nicht zahllose? Ich sehe es wirklich als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, darzustellen, also erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt. Und nicht zeigen durch Faktisches, sondern durch Sätze, durch Sprache, das heißt: diese Welt anders zu zeigen, als es ein Sachbuch täte.
Wolfgang Hermann:
Von den zeitgenössischen Osteuropäern habe ich nicht viele gelesen. Ryszard Kapuściński hat mir sehr gefallen, ›Meine Reisen mit Herodot‹ und andere von seinen Sachen, da ist so viel Leben drin und Aufbruch und Kraft, großartig. Aber das zählt wohl zur Rubrik Reiseliteratur, dennoch ist es einfach wunderbar. Andrzej Stasiuk beeindruckt mich mit seinen Beschreibungen eines versunkenen Kontinents, seine Fahrten durch Osteuropa, wie er die Traurigkeit und Leere mancher Landstriche erfasst, die aus der Geschichte gefallen sind. Ich mag seine kurzen, kreisenden Texte sehr, darin liegt seine Stärke. Er ist ein Unangepasster, umso mehr freut es mich, daß seine Bücher international erfolgreich sind. Er ist keiner, der Literatur nach Rezept fabriziert, wie es der sogenannte Markt zu verlangen scheint, und dennoch hat er Erfolg, das freut mich. Wenn ich Deine Bücher lese, spüre ich ein sehr tiefes Durchdrungensein, Du zeigst den Menschen in seiner Tiefe und verrätst ihn nie um eines billigen Effekts willen. Du erschaffst eine eigene Welt durch Rhythmus, durch Sprache, durch wunderbar indirekte Bilder. Das eröffnet im Leser eine ganz eigene Ebene und Weite, einen eigenen Raum, den man in sich trägt noch lange über die Lektüre hinaus. Man spürt eine Berührung, eine Anwesenheit, einen sanften dunklen Schein, das ist eine sehr seltene Gabe. Ich glaube, Du sprichst da eine universelle Sprache, gültig über die Ländergrenzen hinweg.
Reinhard Kaiser-Mühlecker:
Durchdrungensein ist ein gutes Wort. Es ist schließlich die Voraussetzung, etwas beschreiben zu können. Zumindest ist es das für mich, und zumindest bilde ich mir ein, ein unwahrhaftiges Durchdrungensein – wie etwa in Büchern, die nur zusammenrecherchiert wurden – sofort ausmachen zu können. Da haben wir, glaube ich, eine entscheidende Gemeinsamkeit. Auch Deine Bücher sind von Orten durchweht, ja durchtränkt, und das ist umso erstaunlicher, als diese Orte oft namenlos sind. Aber man erkennt sie, und damit meine ich nicht, dass man dann sagen könnte: Ach ja, Paris! Oder: Das ist Wien! Sondern ich meine, dass man den Ort als Ort erkennt, dass er wahr ist, es ihn gibt. Und auch die Menschen – ob nun einen Einzelnen, nur flüchtig Gesehenen, oder einen ganzen Menschenschlag – muss man so erfassen ...
Wolfgang Hermann:
Du hast völlig recht, es geht um das Durchdrungensein. Als Leser spüre ich entweder eine innere Berührung – und das ist etwas wie Zauberei, eine sanfte Zauberei, die mich öffnet –, oder ich spüre sie nicht. Dann können die Wörter gut aneinandergereiht sein, aber sie berühren mich nicht. Das ist wie ein blinder Spiegel. Es geht um eine Dimension, die man schwer in Worte fassen kann. Das Ausgedachte, Zusammengeplottete kann mich vielleicht unterhalten, aber es hinterläßt keinen Eindruck in mir. Vielleicht hat sich unsere westliche Kultur zu sehr verfranst in fast food auf allen Ebenen. Wir umgeben uns mit Einheitsbrei, egal auf welcher Ebene. Dann haben wir eben auch den Heimatroman als Lokalkrimi nach Einheitsrezept. Wenn ich dagegen Sándor Marais Tagebücher aus dem Krieg aufschlage, erfasst mich die Erschütterung einer tiefen menschlichen Dimension.
Heute aber scheinen Bücher auf bestimmte Wirkungen hin designt zu werden, ich denke, das Geschäft mit den Literaturagenturen wirkt da als Katalysator. Ich finde es wunderbar, daß Du Dich davon in keiner Weise beeinflussen läßt. Du bist darin ziemlich »unzeitgemäß«, das ist gut so. In diesem zunehmend nervösen, hysterischen Europa, in dem die Verunsicherung allseits wächst, angeheizt nicht zuletzt durch die Medien, und in dem die Wähler immer deutlicher nach Rechts rücken, ist es wichtig, daß wenigstens ein paar Schriftsteller die Ruhe bewahren und bei ihrem absichtslosen Tun bleiben.
Reinhard Kaiser-Mühlecker:
Du sagst es ja: Auch der Leser muss durchdrungen sein, muss auffangen können die Schwingungen der Sprache, der Worte und Sätze und sie als das Wesentliche erkennen. Und damit auch zu erkennen in der Lage sein, wenn die Schwingung und das Zittern in der Sprache fehlen. Unzeitgemäß, das sind wir wohl beide. Aber was hieße denn zeitgemäß? Möglichst direkt solle die Sprache sein, schnörkellos, habe ich kürzlich wo gelesen, das Poetische werde als unwahrhaftig empfunden. Von wem aber wird das so empfunden? Von den Empfindungslosen, Plot-Süchtigen? Und die sollen nun also der Maßstab sein? Ich glaube es nicht und bestehe auf dem Anderen. – Vor kurzem kam übrigens Dein neuer Erzählband hier an. Hab Dank dafür. Ich werde ihn bald lesen, weiß aber schon jetzt, dass er mir ein weiterer Beweis sein wird für dieses Andere.
Oktober 2015