Ingeborg Bachmann gilt als Kultautorin. Ist es an der Zeit, sie neu zu entdecken?
Das hoffe ich! Ein wichtiger Aspekt war, Ingeborg Bachmann als Figur der Zeitgeschichte zu entdecken. Dadurch wird sie auf neue Art fassbar – ihr politischer Eigensinn, ihr Engagement, aber auch ihre singuläre Position stehen mir heute klar vor Augen. Sie war ein Kind der Nachkriegsordnung und hat enorm von der Kulturpolitik des Kalten Krieges profitiert. Ich habe eine andere Ingeborg Bachmann entdeckt als jene, die ich in typischer Überidentifizierung als junge Frau verehrt habe. Bachmann war kein Opfer mehr, weder eines der Männer noch des weiterschwelenden Faschismus, sondern eine Frau, die genau wusste, was sie wollte: nämlich eine bedeutende, einflussreiche Schriftstellerin zu werden. Und das ist ihr, wie wir wissen, blendend gelungen. Allerdings ist es erhellend, sich ihre Methoden zu vergegenwärtigen. So habe ich in Ingeborg Bachmann beispielsweise einen Medienprofi entdeckt, eine Humoristin und eine große Strategin.
Sie haben eine ›Biographie in Bruchstücken‹ geschrieben. Haben Sie Vorbehalte gegenüber den großen Lebensbeschreibungen?
Ja, die hatte ich immer. Ich bin ja stark durch Strukturalismus und Postmoderne geprägt. Wäre ich Französin und hätte das Buch auf Französisch geschrieben, dann wären es keine Bruchstücke, sondern »Biographeme«, ein schöner Begriff, der auf Roland Barthes zurückgeht. Eine konventionelle, chronologisch geordnete Biographie zu schreiben, hätte mich nicht interessiert. Aber es gibt noch einen anderen Grund für die Bruchstücke: Der Briefwechsel zwischen Bachmann und Max Frisch ist mir nicht zugänglich gewesen; er liegt in einem Safe in Zürich. Angeblich soll er in einigen Jahren publiziert werden. Dann erst werden wir wissen, wie Bachmann und Frisch als Paar miteinander gesprochen haben.
Wie würden Sie Ihre Arbeitsmethode charakterisieren?
Suchend, ordnend, detektivisch, empathisch, analytisch. Und das wollte ich auch zeigen. Ich wollte nicht so tun, als wäre ich ›dabei‹ gewesen, als wüsste ich alles. Daher habe ich die biographische Arbeit als Spur gelegentlich sichtbar gemacht. So haben auch Leser und Leserin die Möglichkeit, der Darstellung zu folgen oder ihr zu widersprechen. Vor allem wollte ich keinen Bachmann-Gottesdienst!
In Ihrem Buch stehen große Themen wie Politik, Poetik oder Mediengeschichte neben vermeintlich Trivialem, z.B. die Gerüchte über Sex oder die Frage nach der natürlichen Haarfarbe. Ist diese Verbindung für Sie zwingend?
Das ist eine knifflige Frage. Denn zunächst ist man natürlich geneigt zu sagen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Aber im echten Leben fließen die unterschiedlichsten Sphären ja auch ineinander. Ich habe versucht, Inseln von Tratsch zu schaffen, dann wieder ganz seriöse Passagen, die unterschiedlichen Tonlagen sollten dem behandelten Thema angemessen sein. Es fällt mir nicht schwer zu akzeptieren, wenn jemand sagt, er oder sie wolle mit dem Trivialen, oder sagen wir ruhig mit dem Tratsch, in Ruhe gelassen werden, nur der Text zähle... Das war früher auch meine Haltung. Tratsch aber ist soziale Energie, ob man will oder nicht, niemand hat das besser begriffen als Marcel Proust, den Bachmann verschlungen und verehrt hat. Das Banale, Triviale, Gefährliche lauert überall, auch im Leben großer Dichter. Und was die Sexualität angeht: Bachmann war offenbar von einer bemerkenswerten Freiheit. Sie hat Grenzerfahrungen beschrieben – siehe das ›Wüstenbuch‹ aus dem ›Todesarten‹-Zyklus –, und ich denke, die Zeit ist reif dafür, diese Seite ihrer Persönlichkeit nicht mehr auszuklammern aus falscher Scham. Das Gleiche gilt für ihre Alkohol- und Tablettensucht. Und sie ist ja weißgott nicht die erste Dichterin mit Drogenerfahrung.
Welches waren für Sie die aufregendsten Entdeckungen bei den Recherchen über Ingeborg Bachmann?
Es waren so viele! Ich war aufgeregt, als ich ihre Briefe an Hans Magnus Enzensberger in Marbach las; als ich vor ihrem Berliner Haus mit Nachbarn sprach; als der dreiundneunzigjährige Henry Kissinger sich an Ingeborg Bachmann erinnerte. Die hübscheste Trouvaille waren aber wohl die knallgelben Ohrclips, die Ingeborg Bachmann der Fotografin Renate von Mangoldt nach einer römlischen Shopping-Tour geschenkt hat. Diese Ohrclips sind herrlich ›campy‹ und von einer so augenzwinkernden Heiterkeit, dass ich in diesem Geschenk Bachmanns an die junge Fotografin plötzlich eine ganz alltägliche Lebensfreude der Autorin zu spüren meinte.
Sie haben teilweise während Ihres Fellowship am Wissenschaftskolleg an diesem Buch gearbeitet. Hat dieser Aufenthalt Ihren Blick auf das Thema verändert?
Am Wissenschaftskolleg in Berlin-Grunewald herrschte ein höchst inspirierende Arbeitsatmosphäre, ich hatte großartige Gesprächspartner, die mir wichtige Hinweise gaben. Dann war es ganz toll, dass Bachmann selbst einmal als Stipendiatin in Berlin gelebt hatte – 1963 bis Ende 1964 –, und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft des WiKo, in der Koenigsallee 35 in Grunewald. Ich bin an ihrem Haus täglich vorbeigegangen, da wird biographische Forschung dann sehr konkret. Bachmanns Berliner Zeit habe ich ein umfangreiches Kapitel meines Buchs gewidmet, es heißt ›Berlin, Germany‹, weil Bachmann damals amerikanisches Geld bekam, von der Ford Foundation, die West-Berlin als Bollwerk der Demokratie und des Kapitalismus gegen den kommunistischen Osten stärken wollte. Die Künstler profitierten von diesen Programmen, vielleicht ohne sich allzu bewusst zu sein, dass sie zur Spielmasse des Kalten Kriegs geworden waren.
Gibt es in der Bachmann-Biographie noch größere Lücken, die Sie gerne geschlossen hätten?
Das Max-Frisch-Kapitel fehlt, aus den oben genannten Gründen. Diese Lücke wird irgendwann hoffentlich zu schließen sein.
Die Fragen stellte Roland Spahr