Interview mit Remo H. Largo
Alexander Roesler: Nach Ihren sehr erfolgreichen Büchern(›Babjahre‹, ›Kinderjahre‹) über einzelne Phasen in der Entwicklung des Menschen: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, nun ein Buch über das ganze Lebensspanne zu schreiben?
Remo H. Largo: In den Zürcher Longitudinalstudien haben wir die Entwicklung von über 900 Kindern über einen sehr langen Zeitraum begleitet und regelmäßig ausgewertet. Die ge¬wonnenen Erkenntnisse haben unser Verständnis für das Wesen der menschlichen Entwicklung, der Ausprägung individueller Stärken und Schwächen außerordentlich vertieft.
Irgendwann kam ich im Laufe meiner Forschungen an den Punkt, wo ich meine Kenntnisse und Erfahrungen zu einem Gesamtbild der menschlichen Individualität zusammenfassen wollte. Zusätzlich habe ich mich daraufhin sehr intensiv noch einmal mit verschiedenen Fachgebieten beschäftigt, z.B. mit Genetik und Soziologie. Nach und nach fügten sich meine Erfahrungen aus Klinik und Forschung und die Fachkenntnisse aus dieser Lektüre wie Puzzleteile zusammen.
Alexander Roesler: Wie würden Sie die Quintessenz Ihrer lebenslangen Beschäftigung mit der menschlichen Individualität zusammenfassen?
Remo H. Largo: Sie findet sich im sogenannten „Fit-Prinzip“ wieder. Es besagt, dass jeder Mensch danach strebt, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Das Fit-Prinzip beruht auf einer ganzheitlichen Sichtweise, die die Vielfalt unter den Menschen, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen und das Zusammenwirken von Individuum und Umwelt als Grundlage der menschlichen Existenz versteht.
Alexander Roesler: Aber es gibt doch schon zahlreiche Ratgeber, die bei der eigenen Optimierung helfen.
Remo H. Largo: Mein Buch ist kein Ratgeber. Es ist eine Gesamtdarstellung, die sich explizit gegen das Bild der Optimierung wendet. Die Optimierung ist oft gerade das Problem.
Alexander Roesler: Inwiefern ist Leistungsdruck und Optimierungswahn ein Problem unserer Zeit?
Remo H. Largo: Wir versuchen, uns passend zu machen – ohne zu sehen, ob das überhaupt geht oder ob es uns entspricht. Das Ringen um ein passendes Leben überfordert aber trotzdem immer mehr Menschen: Die Kinder sollen die oft-mals übertriebenen Erwartungen der Eltern erfüllen und leiden in der Schule unter einem unerträglichen Leistungsdruck. Den Erwachsenen machen der Spagat zwischen Familie und Arbeit und die wachsenden Anforderungen der Wirtschaft zu schaffen. Alte Menschen, insbeson¬dere wenn sie in Alters- und Pflegeheimen leben, leiden unter fehlen¬der Geborgenheit und sozialer Vereinsamung. Menschen jeden Alters fühlen sich immer mehr fremdbestimmt und können immer weniger ein Leben führen, das ihren individuellen Bedürfnissen und Begabun¬gen entspricht. Im Kleinen kann das Fit-Prinzip den Menschen helfen, zu ihrer Individualität zurückzufinden. Im Großen kann das Prinzip dazu beitragen, Gesellschaft und Wirtschaft so umzugestalten, dass die Menschen ein möglichst gelingendes Leben führen können. Mit meinen Buch möchte ich einen Beitrg dazu leisten.