Susanne Lange: Javier Marías, am Ende Ihres Romans ›Die sterblich Verliebten‹ steht ein Paar, dessen Glück vielleicht auf Verbrechen und Lüge aufbaut. Aber Ihre Figuren sind sich der Wirklichkeit nie sicher, und so opfert die Erzählerin die Gerechtigkeit dem fremden Glück. Ihr neuer Roman ›So fängt das Schlimme an‹ greift das Problem jedoch wieder auf. Er stellt die Frage, ob die Wahrheit ein Ziel an sich sein kann. Hätte das Ehepaar Muriel sein Glück ebenfalls bewahren können, wenn es bei der ursprünglichen Lüge geblieben wäre? Zeigt uns ›So fängt das Schlimme an‹, was geschieht, wenn man seinen Lügen nicht treu ist?
Javier Marías: Ja, eine der Figuren bestätigt das, ein Thema, das bis zu meinem 20 Jahre alten Roman ›Morgen in der Schlacht denk an mich‹ zurückgeht. Wenn jemand über lange Zeit hinweg getäuscht wurde, bringt die Aufklärung nicht nur ein Debakel und Enttäuschung mit sich, sondern verändert maßgeblich das, was er gelebt hat. Und dennoch hat er genau das und nichts anderes gelebt. Die ernste Frage lautet: Was fängt man damit an? Manchmal wird ein ganzes Leben in Zweifel gezogen. Streicht man es aus, erklärt es für ungültig, als hätte es nicht stattgefunden, wenn man entdeckt, dass man in der Lüge gelebt hat? Ich glaube, das ist nicht möglich. Aber unmöglich kann man auch so tun, als wüsste man nicht Bescheid über die Wahrheit, über die langjährige Täuschung. Das Aufdecken einer »angenommenen« Lüge bringt manchmal nichts als Unheil, der Boden, auf dem wir gehen, wird sumpfig und unsicher. »Ich habe gelebt, was ich gelebt habe«, sagt man sich, »das lässt sich nicht ändern. Jetzt aber stellt sich heraus, dass ich im Irrtum, in der Täuschung gelebt habe; doch diese Erlebnisse sind das Einzige, was ich besitze, ich kann sie nicht auslöschen, als existierten sie nicht, denn damit würde ich mein eigenes Leben auslöschen oder einen wesentlichen Teil davon.« Wie Eduardo Muriel in dem Roman sagt, wenn eine Lüge oder eine Täuschung unumkehrbar ist, wenn man zu lange darin verweilt hat, wenn sie unsere Entscheidungen und unsere Existenz bestimmt hat, dann erhält man sie besser aufrecht. Oder wie Sie ganz richtig sagen, vielleicht muss man lernen, seinen Lügen treu zu bleiben, weil das Gegenteil schlimmer sein könnte. In ›Morgen nach der Schlacht denk an mich‹ heißt es ungefähr so: »Sich täuschen ist leicht, es ist unser naturgegebenes Los, und es sollte uns nicht verbittern.«
›So fängt das Schlimme an‹ ist auch ein Roman über das Vergeben. Zum einen auf gesellschaftlicher Ebene, zum anderen auf persönlicher. Gelten in beiden Bereichen die gleichen Gesetze oder ändern sie sich, sobald man die Sphäre des Privaten betritt? Im Spanien der Transición, des Übergangs von Diktatur zu Demokratie, hat es sich als klüger erwiesen, auf Vergeltung zu verzichten, während Muriel seine Frau Beatriz kontinuierlich bestraft und seinem Groll freien Lauf lässt. Aber herrscht in der spanischen Gesellschaft doch ein ähnlicher Groll, gerade weil die Ereignisse der Vergangenheit totgeschwiegen wurden?
Heute wohl nicht mehr. Es fiel schwer zu vergessen, was während des Bürgerkriegs und der endlosen Franco-Diktatur geschah. Doch inzwischen sind 40 Jahre seit Francos Tod vergangen, und endlich liegt für den Großteil der spanischen Bevölkerung all das weit zurück. Natürlich bleibt ein Bodensatz an Groll, nennen wir ihn »historisch«, aber das ist wohl eher eine Frage der Prinzipien, der Ideologie als eine persönliche. Es ist kein tief empfundener Groll mehr, wie so viele Jahre lang. Sie wissen vielleicht (davon erzähle ich auch im dreibändigen Roman ›Dein Gesicht morgen‹, in dem eine Figur auf meinen Vater zurückgeht), dass mein Vater nach Kriegsende ins Gefängnis geworfen und dann von der Diktatur drangsaliert wurde. Ich selbst habe das ganz anders erlebt als meine Nichten und Neffen, seine Enkel. Für sie ist es bloß ein historischer Umstand, eine »Geschichte« gewissermaßen (fast eine »Fiktion«), während ich noch lebendig vor Augen habe, dass er in Spanien nicht unterrichten und erst Mitte der fünfziger Jahre wieder in der Presse schreiben durfte. Für mich ist das weitaus wirklicher als für sie. Im Privatbereich scheint mir die Vergebung schwieriger zu sein, weil ausschließlich die Beteiligten betroffen sind. Aber auf kollektiver Ebene kann ein Mangel an Vergebung – oder Vergessen – von Schuld und Erniedrigung den Weg einer ganzen Nation bestimmen, so dass die Verantwortung sehr viel größer ist. Ich glaube nicht, dass Deutschland die gleiche Geschichte gehabt hätte, wenn man nach 1945 alle zur Rechenschaft gezogen hätte, die sich, wie auch immer, im geheimen Einverständnis mit dem Nazi-Regime befanden. Es empört einen, wenn man bedenkt, dass die meisten straffrei davongekommen sind, aber man kann, wie Muriel im Roman sagt, nicht ein ganzes Land auf die Anklagebank setzen, nicht einmal ein halbes. Außer in Diktaturen, versteht sich. Doch in Spanien wollte niemand eine neue Diktatur, schon gar keinen neuen Bürgerkrieg.
In dem Roman, der 1980 spielt, ist viel von der Scheidung die Rede, die in Spanien erst 1981 eingeführt wurde. Hätte die Scheidung Muriel und Beatriz geholfen?
Manche Paare haben sich in Spanien auch getrennt, als es noch keine Scheidung gab. Doch man wusste, dass man offiziell und legal kein neues Leben beginnen konnte. Deshalb haben viele Paare weiter gelitten und die Möglichkeit einer Trennung nicht einmal erwogen. Man gewöhnte sich an den Ehemann, die Ehefrau, ans Zusammenbleiben, auch wenn man sich nicht mehr liebte oder sogar hasste. Vor allem, wenn es Kinder gab. Kinder getrennt lebender Eltern waren eine Seltenheit, in der Schule betrachtete man sie mit einer Mischung aus Mitleid und Argwohn. Das mag sich dumm anhören, aber wenn man kein zweites Mal heiraten kann, bleiben viele mit dem verheiratet, mit dem sie gar nicht zusammen sein wollen. Hätte es die Scheidung schon gegeben, hätten sich Muriel und Beatriz wahrscheinlich scheiden lassen, sobald die Lüge aufgedeckt war. Aber, wie Muriel sagt, hätte das die »Strafe« verhindert. Natürlich kann man den härter bestrafen, der in der Nähe ist. Es ist schwierig, fast unmöglich, jemanden leiden zu lassen oder sich an ihm zu rächen, der aus unserem Alltag verschwunden ist. Und Muriel war – wenn man das so sagen kann – nicht bereit, auf diese Strafe zu verzichten. Also, wer weiß, vielleicht hätte er, selbst wenn eine Scheidung möglich gewesen wäre, diesen Schritt nicht getan.
Ein Thema des Romans ist auch das Erzählen selbst. In der spanischen Gesellschaft hat die Übereinkunft, nicht über die vergangenen Geschehnisse zu richten, stillschweigend dazu geführt, sie auch nicht zu erzählen. Im Roman stürzt jedoch, im privaten Bereich, gerade das Erzählen Beatriz ins Unglück und Muriel in Ungewissheit, so dass er lieber nicht erfahren will, was man ihm erzählen könnte. Gelten auch in dieser Beziehung unterschiedliche Gesetze im gesellschaftlichen und im persönlichen Bereich?
Ich glaube, ja, zumindest kann es so sein. Es erfordert viel Mut –, nicht Feigheit, wie manche meinen – darauf zu verzichten, etwas zu erfahren oder etwas offenbar Entscheidendes zu erzählen. Ich weiß noch, ich habe einmal einen Brief ungeöffnet zurückgeschickt, weil ich glaubte, wenn ich die Worte darin lesen würde, vielleicht unüberlegt oder hitzig geschrieben, müsste es zwangsläufig zum Bruch zwischen mir und dieser befreundeten Person kommen, die mir schrieb. Ich zog es vor, nicht zu erfahren, was in dem Brief stand – denn ich hatte eine Vorahnung –, anstatt die Freundschaft wegen meiner Kenntnis »preiszugeben«. Am Ende lief es jedoch auf das Gleiche hinaus: die Absenderin war so empört über meine »Gleichgültigkeit«, dass sie in Wut geriet. Ich hatte ihre »Erzählung« zurückgewiesen, wenn man so will, und das empfand sie als gewaltige Kränkung. Aber ich hatte meine Neugier lieber bezähmt – es fällt schwer, einen Brief nicht zu öffnen –, und dafür braucht man, glaube ich, Mut. Das Gleiche gilt für das, was man erzählt oder erfährt. So lautet auch der erste Satz von ›Mein Herz so weiß‹: »Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren ...« Nicht häufig, aber manchmal ist es einem lieber, nicht zu wissen. Oder nicht noch eine schreckliche Geschichte in die Welt zu setzen. Einige meiner Figuren denken in ungefähr so: »Es ist schrecklich genug, dass so etwas geschehen ist, wozu es ein ums andere Mal erzählen. Vielleicht bleibt es besser nur Tatsache und existiert nicht als Erzählung weiter.«
Im Roman heißt es, dass die Leute sich nicht für fremde Dinge interessieren, sondern nur für die eigenen. Ist die Literatur nicht gerade eine Art, sie für das Fremde zu interessieren?
Ja, aber in der Literatur gibt es eine Verabredung, wenn auch stillschweigend, zwischen Autor und Leser. Oft sieht sich der Leser in den Wechselfällen der Figuren abgebildet, in ihren Überlegungen. ›So fängt das Schlimme an‹ zeigt unter anderem, dass die Leute meist keine uneigennützige Gerechtigkeit suchen, sondern nur dann Gerechtigkeit verlangen, wenn es sie persönlich oder Nahstehende angeht. Betrifft einen die begangene Ungerechtigkeit nicht, lässt man sie leicht durchgehen oder schert sich kaum um sie. Wir sollten nicht vergessen, dass der Mensch die Gerechtigkeit teils als zivilisierte und zulässige Form der Rache sieht. Eine strikt persönliche Rache. Die Literatur urteilt nicht oder sollte nicht urteilen: Sie zeigt nur, wie die Dinge geschehen sind, fällt aber niemals ein Urteil (gute Literatur zumindest). Hier kann ein Unbeteiligter sehr wohl Anteil an den Geschehnissen nehmen, die man uns erzählt. Da kommt die Spionage, der Voyeurismus oder die Neugier ins Spiel, wie man es auch nennen mag. Die Kraft der Fiktion ist gewaltig: Sie erreicht, dass wir uns für das interessieren – leidenschaftlich manchmal –, was uns nicht betrifft oder in Wirklichkeit nicht einmal existiert.
›So fängt das Schlimme an‹ scheint uns zu sagen, dass es keine neutralen Zuschauer gibt: Der Akt des Beobachtens schließt uns ein, verwickelt uns in die Geschehnisse. Ebenso ergeht es dem Leser angesichts des Gelesenen. Nehmen die Figuren in Ihren Romanen diese Art Voyeurismus oder Neugier des Lesers vorweg?
Ja, alles involviert uns, das bloße Dasein schon. Im Roman taucht wiederholt ein Bild auf: Selbst wenn wir uns nicht rühren, gar nichts tun, sind wir allein durch unsere Existenz wie ein Treibgut auf dem Ozean; sobald man gesichtet wurde, steuert jemand auf uns zu, verwickelt uns in etwas. Allerdings nehmen die Figuren in meinen Büchern die Haltung des Lesers nicht mehr vorweg als in jedem anderen Roman auch. Beim Schreiben rechne ich nicht mit dem Leser. Ich weiß natürlich, es wird ihn geben, stelle mir vor, was ihn womöglich beunruhigt oder wie er angesichts einer Episode, eines Gedankens reagiert. Aber mehr nicht. Ich rechne nicht mit seiner »Beteiligung«, auch wenn es stimmt, dass jeder Leser ein anderes Buch liest. Manchmal treffe ich auf Lesarten meiner Romane, die für mich wie vom Mars gefallen zu sein scheinen, sogar bei Kritikern. Ich frage mich dann: »Was zum Teufel hat der Mensch gelesen?« Aber wünschte man sich einen eindeutigen Roman, dürfte man ihn nicht veröffentlichen, müsste ihn in der Schublade lassen.
Es heißt, Thomas Bernhard habe an einem einzigen Buch mit endlosen Variationen geschrieben. Auch in Ihrem Fall haben wir es mit einem eng verflochtenen Werk zu tun, nicht nur in thematischer und stilistischer Hinsicht, sondern auch durch die Nebenfiguren. Manche Figur schmuggelt sich in andere Bücher und Erzählungen ein, hier zum Beispiel Francisco Rico. Ebenso scheinen Sie eine Vorliebe für die großen Nebendarsteller im Kino zu haben. Welche Rolle spielen diese Nebenfiguren in Ihrem Werk?
Sie sind sozusagen die »Landschaft« oder der Nährboden der Hauptfiguren, der deren Existenz ermöglicht. Im Kino sorgen sie meiner Ansicht nach für Glaubwürdigkeit. Das kann man gut an Hitchcocks Filmen sehen, die genau genommen recht unwahrscheinlich sind. Dennoch wirken sie am Ende glaubwürdig, nicht nur dank seines Genies, seiner hypnotischen Fähigkeiten, sondern dank ihres realistischen Backgrounds, voll Alltäglichkeit und Humor, der gewöhnlich von den Nebenfiguren getragen wird. Bei mir wandern sie tatsächlich von einem Roman in den anderen oder werden sogar zur Hauptfigur, wie beim Erzähler von ›Böses Blut‹. In dieser Erzählung über Elvis Presley in Mexiko spielt Ruibérriz de Torres die Hauptrolle, der als Nebenfigur in ›Morgen in der Schlacht denk an mich‹ und in ›Die sterblich Verliebten‹ auftaucht. Gerade diesen Figuren leihe ich häufig eigene Charakterzüge oder Merkmale, vielleicht mehr als den Hauptfiguren. Man könnte sagen, sie sind die Leinwand, auf die Geschichten gezeichnet werden. Etwas in dieser Art.
Ihr Onkel Jess Franco war vermutlich Modell für den Protagonisten, den Filmregisseur Muriel. Hatten auch Sie damals Kontakte zur Welt des Kinos und haben Jess Francos fieberhafte Aktivität miterlebt?
Nein, mein Onkel Jess Franco ist nicht das Modell. Mein Onkel war ein kleingewachsener, nervöser Mann, ungestüm und wenig besonnen. Will man Vorbilder suchen, hat die Figur Muriel viel mehr mit dem Schriftsteller Juan Benet zu tun, meinem Meister und Freund bis zu seinem Tod 1993. Von meinem Onkel Jesús oder Jess habe ich nur einige wenige Elemente übernommen, da Muriel ein Filmregisseur auf dem absteigenden Ast ist, der sich gezwungen sieht, unsinnige Filme zu drehe, Genrefilme oft. Mein Onkel war im Grunde von Beginn an »auf dem absteigenden Ast«. Heute ist er weltweit fast zur Kultfigur geworden, aber in Wirklichkeit sind die meisten seiner Filme erbärmlich, wenn auch verrückt und sympathisch. Am meisten Kontakt zu ihm hatte ich in meiner frühen Jugend, und aus jener Zeit habe ich einige Erinnerungen für den Roman ausgegraben. Ich war bei Dreharbeiten dabei, habe Jack Palance und Herbert Lom gesehen, die auch im Roman vorkommen, allerdings nicht mit ihnen gesprochen. Ebenso Christopher Lee, mit dem mein Onkel mehrere Dracula- und Fu-Manchu-Filme gedreht hat. Außerdem Klaus Kinski und Maria Rohm, die Frau des Produzenten Harry Alan Towers, den ich auch kennengelernt habe und der ebenfalls im Roman vorkommt. Ich hatte sogar eine Statistenrolle in einer Fu-Manchu-Folge. Aber man erkennt mich nicht, weil ich als Chinese verkleidet bin und eine schwarze Kapuze trage, man sieht mein Gesicht nicht. Mein Onkel hat auch einmal mit einem meiner Lieblingsschauspieler aller Zeiten gearbeitet, George Sanders, aber ihn habe ich nie getroffen. Er hat sich in Spanien umgebracht, ich hoffe sehr, dass nicht mein Onkel Jess schuld war.
Wenn Sie in Ihren Romanen fremdsprachige Zitate einflechten, bieten Sie oft mehrere Versionen als Übersetzung an. Aber ich habe auch den Eindruck, dass dieses übersetzerische Prinzip auf den gesamten Stil übergreift, der ein Thema mittels verwandter Ausdrücke immer wieder umkreist, als ein autrement dit: Welche Rolle spielt die Übersetzung in Ihrer Arbeit?
Eine sehr wichtige. Zum einen macht uns (die wir sie praktiziert haben) die Übersetzung bewusst, dass man alles auf andere Weise sagen kann und nicht einmal das englische Wort love (das alle Welt zu verstehen und zu kennen meint) eindeutig ist oder eine einzige, glasklare Übersetzung hat. Die Sprache ist immer approximativ, ja, sie ist immer metaphorisch. Jedes Wort ist ein Mysterium oder umschließt es, dessen bin ich mir sehr bewusst. Aber noch in anderer Hinsicht ist die Übersetzung entscheidend für mich, wenn es ums Schreiben geht: Beim Übersetzen hat man eine feste Grundlage, die niemals versagt: das Original. Ich brauche etwas Ähnliches, und mein »Original« ist der erste Entwurf, die erste Version jeder Seite. Sobald ich »etwas« habe, mag ich es auch unüberlegt und hastig geschrieben haben, kann ich dieses »Etwas« bearbeiten und gestalten, wie ich es beim Übersetzen getan habe. Natürlich ist es ein falsches »Original«, denn ich muss ihm nicht treu bleiben, kann alles Mögliche ändern und streichen, beliebig hinzufügen. Aber wie gesagt: sobald es ein paar Zeilen gibt, so provisorisch sie sein mögen, verspüre ich die »Sicherheit«, ein »Original« zu haben.
Augenblicklich gibt es in Deutschland eine Diskussion darüber, ob die Literaturkritik zu freundlich geworden ist. Wie sehen Sie die Literaturkritik in Spanien?
Das Problem der spanischen Literaturkritik ist, dass sie nicht mehr im Geringsten zählt. Warum das geschehen ist? Zum einen (und das ist vermutlich überall so) richten sich die Leute mehr nach dem, was im Internet steht oder in den Tweets, ja sogar in den SMS der Freunde. Zum anderen aber war die spanische Literaturkritik schon allzu lange unaufrichtig. Romane wurden gelobt, und man merkte, dass sie dem Kritiker trotz des Lobs gar nicht gefallen hatten, oder umgekehrt: Ein Werk wurde verrissen, und man merkte, dass es dem Kritiker weitaus besser gefallen hatte, als er zugab. Deshalb haben sich meiner Ansicht nach viele Leute von der Literaturkritik abgewandt und das Schicksal der Bücher den Lesern selbst überlassen, den Empfehlungen von Mund zu Mund, von Tweet zu Tweet. Die Leser haben es satt, Lobgesänge auf ein Werk zu hören, es zur Hand zu nehmen und nicht das »Meisterwerk« zu finden, als das es angepriesen wurde. Oder umgekehrt: Schmähungen zu lesen, und dann festzustellen, dass sie keineswegs verdient waren, sondern vielleicht nur dem Wunsch des Kritikers entsprangen, zu widersprechen oder sich »wild« zu gebärden. Nichts davon interessiert den wahren Leser, nicht die fixen Ideen, nicht die Willkür des Kritikers, auch nicht seine Persönlichkeit.
Interviews
Ist es besser, seinen Lügen treu zu bleiben?
Ist es Mut oder doch eher Feigheit, die sich hinter dem bewussten Verzicht auf Wahrheit verbirgt? Diesen und anderen Fragen geht die Übersetzerin Susanne Lange in ihrem Interview mit Javier Marías nach.