Interviews

Was wir aus der Leistungsgesellschaft der USA lernen können

Helmut Reuter über seine Arbeit an der Übersetzung von Michael Sandels »Vom Ende des Gemeinwohls« und die Einsichten, die er daraus für Deutschland gewonnen hat.

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© Helmut Reuter

Michael Sandel ist einer der wichtigsten lebenden Moralphilosophen, Sie sein deutscher Übersetzer. Wie nähern Sie sich seinen Büchern, wenn Sie mit der Arbeit beginnen? 

Auch mit seinem neuesten auf Deutsch erschienenen Buch hat Michael Sandel uns einiges zu sagen. Sein beständiger Erfolg zeigt, dass sich sehr viele Menschen für philosophische Themen interessieren, weil sie erkennen, dass dort Antworten auf Fragen zu ihren eigenen Lebensumständen zu finden sind. Sandel greift aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen auf und erörtert sie im Rahmen der philosophischen Denkansätze, die Bestandteil unseres kulturellen Erbes sind. Besonders erfreulich finde ich, dass er nie als moralphilosophischer Sonntagsredner auftritt, sondern den Leser immer dazu einlädt, die aufgeworfenen Fragen selbst zu durchdenken.

 

In »Vom Ende des Gemeinwohls«, Michael Sandels neuem Buch, schreibt der Philosoph über brandaktuelle gesellschaftliche Themen, so dass sich Theorie und Praxis oft sehr nahe kommen. Welche Herausforderungen ergeben sich für die Übersetzung?

In seinem direkten Alltagsbezug liegt eine der Herausforderungen für den Übersetzer: Vieles, was im Leben von US-Amerikanern wichtig ist, hat bei uns einen anderen Stellenwert oder wird durch Institutionen abgedeckt, die nicht direkt vergleichbar sind. Doch sobald klar ist, worauf es ihm ankommt, kann ich mich meiner eigentlichen Aufgabe widmen: Der Text wird Satz für Satz in Gedanken erfasst und »bearbeitet«, bis eine Form gefunden ist, in der ich ihn meinem virtuellen Leser verständlich mitteilen kann – in meinen eigenen Worten. Dabei orientiere ich mich frei nach Wittgenstein gern an der Devise »Alles, was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen.« Und meiner Ansicht nach findet sich diese Haltung auch bei Michael Sandel. Der Sprachstil ergibt sich dann vorwiegend aus dem übermittelten Inhalt. Als letzte Instanz folgt die redaktionelle Bearbeitung, die dankenswerterweise auf all das hinweist, was einem an sprachlichen Verirrungen passiert ist.

 

Was ist die überraschendste Erkenntnis, die Sie aus dem Buch ziehen?

Abgesehen von solchen eher formalen Aspekten: »Vom Ende des Gemeinwohls« behandelt ein zentrales Thema, das auch in unserem Alltag nachvollziehbar ist. Die Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung nimmt bei uns ebenfalls Ausmaße an, die das Gesellschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft aushöhlen und damit gefährden. Und auch Marktwirtschaft aushöhlen und damit gefährden. Und auch bei uns scheinen viele den Eindruck zu gewinnen, dass »die da oben« mit einer gewissen Überheblichkeit oder gar mit Verachtung auf sie herabschauen – Anhänger der AfD und »Querdenker« aller Art versuchen mit Nachdruck, beachtet und ernst genommen zu werden. Auch wenn es angesichts der zu diesem Zweck vorgebrachten, aus Wissensbruchstücken selbst zusammengezimmerten Ideen schwer fällt: Eine der Aufgaben der Zivilgesellschaft wird sein, die hinter den meist kruden Thesen stehenden emotionalen Bedürfnisse zur Kenntnis zu nehmen und darauf einzugehen - nur so wird man diesen Teil der Gesellschaft wieder in den demokratischen Diskurs zurückholen können. Das »Gemeinwohl« sollte schließlich alle etwas angehen. Und es ist kein Naturgesetz, dass eine Gesellschaft allein durch Konkurrenz bestehen kann, wo der Zweite immer schon der erste Verlierer ist – Kooperation und Solidarität stärken die Gemeinschaft sehr viel mehr. Ohne auf Kropotkin zurückgreifen zu müssen, bietet Sandel genügend aktuelle Belege dafür an, dass solidarische Modelle den »größten Nutzen für die größte Zahl ermöglichen« (was ja eigentlich auch den Verfechtern einer »reinen« Meritokratie gefallen sollte).

 

Der American Dream – sich mit harter Arbeit vom Tellerwäscher zum Millionär hocharbeiten zu können – ist geplatzt. Hinter wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit und politischen Ressentiments erkennt Michael Sandel die Tyrannei der Leistungsgesellschaft, die die Menschen in Gewinner und Verlierer spaltet. Inwiefern gilt dies aus Ihrer Sicht auch für unsere Gesellschaft?

Klar ist, dass die deutsche Gesellschaft nicht in dem Maß gespalten ist, wie Sandel das für die USA konstatiert. Doch gerade deswegen können wir aus Sandels Analyse lernen, dass es darauf ankommt, rechtzeitig gegenzusteuern. Es ist zwar nicht damit zu rechnen, dass Millionen Minderheiten (»Ich bin das Volk!«), die sich irgendwie in ihrer Befindlichkeit gestört fühlen, mit allen Mitteln versuchen, allen anderen ihre Weltsicht aufzunötigen. Doch angesichts der auch hier zu beobachtenden Tendenz, sich im selbstgebastelten ideologischen Lager zu verschanzen und die benachbarten Wagenburgen vor allem mit Hass und Hohn zu überschütten, sollten alle, denen am Zusammenhalt dieser Gesellschaft gelegen ist, ihre eigene Rolle in diesem historischen Prozess überdenken. Neben dem päpstlichen Appell zu mehr »Geschwisterlicheit« werden auch die Ungläubigen unter uns Möglichkeiten finden müssen, die Gräben wieder zuzuschütten, ehe sie noch tiefer werden. Zum Abbau der ökonomischen Ungleichheiten könnten etwa Genossenschaftsmodelle gefördert und obligatorische Beteiligungen der Belegschaften am Produktivkapital eingeführt werden. Und alle könnten sich darum bemühen, Mitbürgern aus anderen Lebenszusammenhängen und mit anderem Bildungshintergrund respektvoll zu begegnen, so dass sie sich nicht ausgeschlossen, sondern akzeptiert fühlen.

 

Das Gespräch führte Yelenah Frahm

Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. »Was man für Geld nicht kaufen kann« wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit ...

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