Interviews

Rafael Cardoso im Gespräch

Der Vergangenheit ins Gesicht schauen - Ein Spaziergang durch Berlin mit Rafael Cardoso. Von Michi Strausfeld

Rafael Cardoso ist Autor, Kurator und Kunsthistoriker. Er unterrichtet an der Universität von Rio de Janeiro und lebt zurzeit in Berlin, wo er an einem Buch über das Leben seines Urgroßvaters Hugo Simon schreibt. Hugo Simon lebte in Berlin, war Bankier, Kunstmäzen und Politiker, der mit Albert Einstein und Thomas Mann befreundet war und Gemälde von Oskar Kokoschka, Max Pechstein und vielen weiteren Künstlern sammelte. 1933 floh er mit seiner Frau über die Schweiz, Frankreich, Spanien und Portugal nach Brasilien.

Rafael Cardoso, Sie leben jetzt fast ein Jahr in Berlin, lernen Deutsch, recherchieren für Ihr neues Buch, ein Roman über das Leben ihres Urgroßvaters Hugo Simon. Wie erleben Sie Berlin?

Ich vertiefe mich ganz in die Vergangenheit der Stadt, tauche ein in das Leben von damals. Das scheint eine Gewohnheit von mir zu werden, die Stadt zu suchen, die nicht mehr existiert. Das habe ich auch schon in Rio de Janeiro gemacht, habe versucht, dort die vielen Schichten aufzudecken, die die schnellen Veränderungen zerstört haben.

Welche Bücher lesen Sie, um sich in die Zeit, in der Ihr Urgroßvater lebte, einzufinden?

Ich lese viele historische Bücher und Romane aus der Zeit der 1920er und 30er Jahre. Ganz wichtig für mich sind die Tagebücher von Harry Graf Kessler. Dann merke ich, dass viele Straßen nicht mehr existieren, Orte werden zu Phantasievorstellungen. Mein Blick auf die Stadt ist der eines Historikers oder Archäologen. Ich sehe sie wie unter einem Glasdach, denn das Schreiben ist eine Arbeit, die ja im eigenen Kopf stattfindet.

Haben Sie viel Neues gefunden?

Fast jeden Tag entdecke ich etwas: Ich recherchiere im Archiv, im Internet, auf der Straße, lese in der Bibliothek. Zum Beispiel war ich in Seelow und habe dort, wenn man so will, der Vergangenheit ins Gesicht geschaut. Das Landgut Schweizerhaus gehörte meinem Urgroßvater, und war damals berühmt. Es war mehr als 100 Hektar groß, man baute Obst an, es gab Bienenstöcke und eine Waschbärenzucht – ein wirklich soziales Experiment, wo wissenschaftlich betriebene Landwirtschaft mit kooperativer Arbeit verbunden wurde. Aus ganz Deutschland kamen Leute, um sich dieses Gut anzusehen. Auch nach Hugo Simons Emigration blieb es in Betrieb, bis zum Ende des Krieges. Dort fand die fürchterliche Schlacht der Höhen von Seelow mit Tausenden von Toten statt. Danach war alles zerstört. 2009 nahm der Heimatverein Landgut Schweizerhaus Kontakt mit meiner Familie auf, sie wollen das Landgut restaurieren. Ich wurde nun eingeladen, das Schweizerhaus zu besichtigen, das jetzt allmählich wieder aufgebaut wird. Seit 1933 war niemand aus meiner Familie dort, und so wurde ich zum Protagonisten der GESCHICHTE. Es war wie eine Heimkehr des verlorenen Sohnes.

Gibt es auch direkte Funde aus der Zeit, als Hugo Simon noch in Europa lebte?

Im Sommer habe ich in einem Archiv in Toulon recherchiert. Das Feriendorf Sanary-sur-Mer, ganz in der Nähe, war nach der Machtergreifung zu einer Art heimlicher Hauptstadt der deutschen Schriftsteller im Exil geworden – Thomas Mann kam, Feuchtwanger, Ernst Toller und viele andere, etwa 20. Walter Bondy, ein österreichischer Maler, machte dort ein Fotostudio auf – er war ein Vetter der Cassirers und Freund des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe, der sich besonders um das Werk von Cézanne bemüht hat. Hugo Simon seinerseits war mit Meier-Graefe befreundet. Bondy heiratete eine deutlich jüngere Französin, und diese vermachte in den 90er Jahren der Stadt Toulon das Fotoarchiv ihres Mannes. Das waren viele Kartons und meine Intuition sagte mir: Dort muss es Fotos meiner Familie geben. In den zehn Kisten mit der Aufschrift »Anonyme Portraits« fand ich tatsächlich zwei Fotos meiner Großmutter und eines meines Großvaters Wolf Demeter. Selbstverständlich wird Walter Bondy jetzt als Person in meinem Roman auftauchen – ich verdanke ihm immerhin diese drei Fotos.

Und im Berlin von heute, wie geht es Ihnen dort?

Ich mag das Berlin von heute sehr und lerne weiter Deutsch. Beim Lesen verstehe ich vielleicht siebzig Prozent, Sprechen ist schwieriger. Manchmal stoße ich unvermittelt auf die Vergangenheit. Einmal radelte ich von der Bibliothek nach Hause und sah am Brandenburger Tor viele Menschen. Es war der erste Tag, an dem die Litfaßsäulen mit den Plakaten »Zerstörte Vielfalt« aufgebaut worden waren. Und plötzlich sehe ich ein Foto von Hugo Simon. Das war ein sonderbares Gefühl: Wieder schaute ich der Vergangenheit ins Gesicht. Die Leute, die diese Ausstellung betrachten, sind ein Beweis für das Interesse anderer Menschen an den Schicksalen der Menschen, die fliehen mussten.

Rafael Cardoso

Rafael Cardoso

Rafael Cardoso, geboren 1964 in Rio de Janeiro, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Erzählband »Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio« (2013). Seit 2012 lebt er in Berlin, wo er sich auf die Spuren seines Urgroßvaters Hugo Simon begab. Basierend auf diesen Recherchen entstand das Buch »Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie« (2016).