Dass ein Kunstwerk gelingt und das heißt in erster Linie: dass es überhaupt fertig und veröffentlicht wird, ist ja eher die Ausnahme als die Regel. Das vergisst man immer angesichts unserer Kulturgeschichte, die mit Meisterwerken reich bestückt ist. Was ist aber mit all der Masse von Werken, die nie fertig wurden? Und warum blieben sie unvollendet? Was ist da passiert? Und was bedeutet das überhaupt: scheitern? Das hat ja immer einen sehr negativen Beigeschmack. Es gibt aber halt auch Werke, die sind nicht zu 100% gelungen – und sei es nur, dass sie nie fertig wurden. Aber trotzdem enthalten sie geniale Passagen, die es lohnt, näher anzusehen.
Ich habe mich einerseits vom Kanon leiten lassen, obwohl das heute natürlich ein problematischer Begriff ist. Trotzdem wird es niemanden geben, der die Bedeutung Michelangelos, Beethovens, Kubricks oder Bachmanns in Frage stellt. Was ist also mit diesen Genies? Was hatten sie außer ihren bekannten Meisterwerken noch in der Schublade liegen und warum sind sie damit nicht zu Rande gekommen? Andererseits war ich egoistisch und habe mir Künstler:innen angeschaut, die ich persönlich toll finde, obwohl sie vielleicht eher nischig sind. Den genialen Dilettanten James Hampton zum Beispiel. Oder die Singer-Songwriterin Judee Sill, die vielleicht tragischste Heldin des Rock ’n‘ Rolls.
Mich haben als Jugendlicher die Romane Franz Kafkas beim Schreiben stark beeinflusst. Gerade weil sie alle drei nicht vollendet sind und das natürlich – wie bei jedem unvollendeten Kunstwerk – bei mir ein Kopfkino in Gang gesetzt hat: Wie geht diese Geschichte aus? Davon handelten dann manchmal meine allerersten Texte, was im Nachhinein natürlich ziemlich größenwahnsinnig war, dass ich da einfach Fortsetzungen von »Der Process« und »Das Schloss« geschrieben habe. Aber das Unvollendete der gescheiterten Kunstwerke ist in gewisser Weise auch ein Urknall für die Fantasie.
Ja, ich denke schon. Und zwar weiß ich das aus eigener leidvoller Erfahrung als Regisseur. Beim Fernsehen und besonders beim Kino gibt es so viele unterschiedliche, höchst riskante Faktoren, dass der Friedhof der gescheiterten Filme geradezu unermesslich ist und täglich anwächst. Film ist ja nicht nur – mehr als alle anderen Kunstsparten – Teamarbeit (vom Drehbuch über die Schauspieler:innen, die Kamera und die Regie), wo nur ein Gewerke ausfallen muss und schon explodiert alles, es ist auch die neben der Architektur teuerste Kunst. Und Filmfirmen tendieren ja manchmal dazu, bankrott zu gehen…
Bei all den Projekten, mit denen Du dich beschäftigt hast, gibt es da eines, bei dem Du dir es am meisten wünschen würdest, es wäre vollendet worden?
Da ist die Liste lang. Beethoven zehnte Sinfonie würde mich brennend interessieren. Auch der vierte Satz der 9. Sinfonie Anton Bruckners. Wenn es nach mir ginge, hätte Ludwig II. noch ein paar seiner geplanten Schlösser bauen dürfen. Und natürlich würde man zu gern wissen, wie Charles Dickens‘ »Edwin Drood« oder Jane Austen’s »Sanditon« denn nun ausgegangen wären.
Ich freue mich sehr für Brian Wilson, den Kopf der »Beach Boys«, dass er nach sage und schreibe 35 Jahren dann doch noch sein »Smile«-Album fertigstellte. Aber die fünf, sechs Stücke, die es von dem originalen Album aus den 1960ern gibt, haben so eine unglaubliche Strahlkraft, dass die Neuaufnahme mit einem hörbar gealterten Wilson und Originalinstrumenten von damals, denen aber digital nachgeholfen wird, den Eindruck der ursprünglichen Fragmente nachträglich ein bisschen beschädigt.
Das Scheitern wird nicht aufhören. Und das ist gut so. Denn gerade, dass etwas nicht gelingt, ist ja oft Anstoß für etwas, das dann doch noch glückt. Wenn auch vielleicht viel später und jemand anderem. Aber auch Ideen, die nicht umgesetzt wurden, weil sie vielleicht zu groß und unrealistisch waren, sind ja ständiger Ansporn, es trotzdem und nun erst recht zu versuchen. Fail again! Fail better!