Paris, den 1. November 2024
Lieber Roland,
gestern, in der Pariser Maison de la Poésie, wurde Thomas Mann gefeiert. Zumindest möchte ich es so verstanden wissen, denn Sophie Marceau hat dort Auszüge aus meinem zweiten Roman La Couronne du serpent gelesen, einem Briefroman, in dem es um Viscontis Verfilmung von Der Tod in Venedig geht. Marceau hat also aus den Briefen gelesen, fiktiven Briefen von Björn Andrésen, der im Film die Hauptfigur der Novelle spielt, den jungen polnischen Aristokraten Tadzio, dessen bloße Schönheit den alten Gustav von Aschenbach so überwältigt. Ich selbst wiederum las die Briefe Viscontis – grob zusammengefasst besteht mein Text aus dem Schriftwechsel zwischen Visconti und Andrésen sowie eingeschobenen Tagebuchfragmenten, auch diese frei erfunden –, und um dabei möglichst echt zu klingen, musste ich die Selbstsicherheit, ja den Hochmut des Regisseurs nachahmen, der den gerade einmal 15-jährigen Björn Andrésen an einem Wintertag des Jahres 1970 zum »schönsten Jungen der Welt« erklärte.
Wer hätte Andrésen besser verkörpern können als Sophie Marceau? Als 1980 La Boum in die Kinos kam, erfuhr auch sie sofortigen, totalen Ruhm. Zehn Jahre später zwar als er, aber doch auf die gleiche Art, und dabei sogar noch etwas jünger. Sie war gerade 14 geworden und schrieb abends vor dem Schlafengehen in irgendwelchen Hotelzimmern in London oder Tokio stapelweise Autogramme auf Briefe und Poster, nachdem sie tagsüber Werbespots gedreht, vor Kameras posiert oder Journalisten Interviews gegeben hatte. Es war Sophie Marceau, die mir manchmal in den Sinn kam, wenn ich mir Björns Erinnerungen vorstellte und den Wahnsinn des Berühmtseins beschrieb, den Erfolg in jungen, für manche zu jungen Jahren – nicht nur für Björn Andrésen, sondern auch für Sue Lyon, die für immer Lolita bleiben wird, für Judy Garland und noch viele andere. Sophie Marceau war nicht zu jung; Ausnahmen bestätigen die Regel, sagt man ja, und die Regel könnte lauten, dass frühe Bekanntheit Kinder und Jugendliche verbrennt und bis zur Übelkeit berauscht. Sophie Marceau ist eine Ausnahme, jedoch nicht die einzige: Bevor sie gestern die Bühne des Petit Théâtre in der Maison de la Poésie betrat, rief sie Shirley Temple in Erinnerung, die als Kinderstar der dreißiger Jahre und amerikanische Ikone mit beiden Beinen fest im Leben stand und später sogar Botschafterin der Vereinigten Staaten wurde. Am Ende der Lesung erhob sich das Publikum zum Applaus, wir wurden noch einmal herausgerufen; man beklatschte den Kinostar und die Filmkunst, das meisterhafte Können Viscontis, die sumpfige Herrlichkeit Venedigs im Schatten von Lübeck.
Dieser Moment war eine Hommage auf Björn Andrésen, der zugleich völlig vergessen wurde. Dabei war es doch gerade sein Unbehagen, das mich, anfangs noch etwas ziellos, zum Schreiben bewogen hat, so wie ich in meinem ersten Roman bereits über einen anderen 15-Jährigen geschrieben habe, einen Jungen, den ich Guillaume nannte, einfach, um die Leser zu täuschen, um sie glauben zu lassen, dass es um mich gehe, meine eigene Jugend, von der ich jedoch nur ausgegangen war, um eine andere zu erfinden, sowohl die, die ich hätte haben können, wenn ich weniger Glück gehabt hätte, als auch jene, die ich tatsächlich erlebt habe, irgendwie eine Mischung, ein Leben in überhöhter oder abgeschwächter Form, je nachdem, vielleicht auch beides; ich schrieb über Zurückweisung, Gewalt, Homophobie, ich musste darüber schreiben, um atmen zu können, als ob ich mich daran erinnern müsste, dass sie immer da ist, schlummernd, aber jederzeit bereit hervorzubrechen. Ich wollte über Björns Leben schreiben, von dem er sagte, dass er es verpfuscht habe, über seine Karriere als Musiker, die er verfehlt zu haben glaubte, und wahrscheinlich lag eben darin eine Angst, die ich von mir fernhalten wollte, die Angst davor, den falschen Weg einzuschlagen und das Leben zu verpassen, ein Schicksal, dem ich unbedingt entkommen wollte.
Ich hatte Tod in Venedig im Alter von 15 Jahren gesehen. So alt war auch Andrésen, als der Film gedreht wurde, von dem mir jenes schwere, diffuse Gefühl geblieben war, das andere vor mir schon hatten, eine Art verwirrte Langeweile. Was sollte dieser Film bedeuten? Was wollte Visconti, was sollte in all das Schweigen und die Blicke hineingelegt werden? Erst als ich vor ein paar Jahren auf Arte einen schwedischen Dokumentarfilm von Kristina Lindström und Kristian Petri sah, der den Schauspieler porträtiert, habe ich verstanden. Ich habe verstanden, dass ich mich in ihn hineinprojiziert, mich gegen meinen Willen mit ihm identifiziert hatte, weil ich spürte, dass dort etwas Entscheidendes passierte, etwas Morbides, ein Absterben, etwas, was das Leben ändert oder zerstört. Und genau so hat er den Filmdreh erlebt, seine Rolle war wie ein Mord, er war der Tote in Venedig, gestorben mit 15 Jahren, lebendig eingemauert in dieser viel zu großen Rolle, der Rolle des Fleisch gewordenen Begehrens vor den Augen der ganzen Welt. Die Frage war also: Wie konnte ein einfacher Blick, der Blick des Begehrens, ein Leben zerstören? Und weiter noch: Wie hatte man dieses Kind nur so allein lassen können? Andrésen schrie innerlich: »Ich wollte woanders sein, ein anderer sein.«
Vor kurzem habe ich ein Interview mit der Essayistin Mona Chollet gelesen, in dem sie darauf hinweist, dass Kinder in der Gesellschaft kein Gehör finden. Wahrscheinlich war es das, was mich antrieb, sosehr ich auch von der Furcht besessen war, Visconti aus einem anachronistischen Blickwinkel zu betrachten und ihn in Zeiten von MeToo und offen geäußerter Empörung als Triebtäter erscheinen zu lassen. Denn wie man es auch wenden mag: Visconti konnte nie auch nur das Geringste vorgeworfen werden, es gab von ihm während des Drehs weder deplatzierte Gesten noch unangemessene Äußerungen. Er selbst sagte es den anderen immer wieder: Der junge Schauspieler musste geschützt werden. Das Objekt der Begierde war Tadzio, nicht Björn. Aber war es dann auch vernünftig, diesem Jungen die Rolle zu geben?
Die so aktuelle Frage nach der Moral in der Kunst stellt sich hier in ihrer ganzen Breite. Darf man heute das künstlerische Schaffen noch als ein amoralisches Terrain betrachten? Legt das neu geweckte Bewusstsein dem kreativen Ausdruck kein Korsett an? Meine Antwort lautet, dass Kunst sich immer außerhalb der Moral bewegen muss und dass die Moral niemals eine Last auf den Schultern der Kunst sein sollte. Gleichzeitig müssen wir aber den Menschen mit Achtung begegnen, wir müssen uns immer wieder erinnern, dass Kinder wie Schwämme sind, sensible Pflanzen, lichtempfindlich und dürstend nach den Worten Erwachsener, dass Kinder Wesen sind, die noch wachsen müssen, erwachsen werden, eben weil sie es noch nicht sind. Wenn Visconti Andrésen während des Drehs geschützt hat, so tat er es, weil dieser Junge in seiner Kindlichkeit die ursprünglichste Kunst verkörperte, eine Kunst, die über allem steht, größer als das Leben, und größer als der Tod. In meinem Roman schreibt der Maestro folgende Worte aus Thomas Manns Novelle Tonio Kröger ab: »Er arbeitete nicht wie Jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie Einer, der nichts will, als arbeiten, weil er sich als lebendigen Menschen für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht.« Einzig das Schaffen war ihm wichtig, und angesichts dieser Überzeugung lässt sich auch das Ur-Trauma verstehen; der Beginn seines Scheiterns, wie Andrésen es nannte.