Ich mochte Thomas Mann eigentlich gar nicht. Mit sechzehn las ich Heinrich Manns Henri Quatre. Von da an glaubte ich in meiner adoleszenten, protestdurchtränkten Literaturwut zu wissen, wer der revolutionärere, spannendere und wortmächtigere Bruder sei. Ich war Team Heinrich. Als müsste da eine Entscheidung getroffen werden. Der Thomas Mann, der mir in den achtziger Jahren durch die Schule und durch die Medien vermittelt wurde, wirkte auf mich konservativ und pompös. Ich kannte damals das gemeine Bonmot von dem »hochgezüchteten Marzipanmann aus Lübeck« noch nicht, das ihm sein Kritikerfeind Theodor Lessing verpasst hatte. Aber es entsprach meinem damaligen Bild: norddeutsch, oft dekorativ und ziemlich beige.
Mit dem Studium in den neunziger Jahren wurde es nicht besser. Ich beschäftigte mich intensiv mit Klaus Mann, und wer das einmal getan hat, kann nur schwer die gesammelte Familiengrausamkeit aus den literarischen Werken herausfiltern, geschweige denn Sympathie entwickeln. Da wusste ich bereits, dass die Mutter von Thomas und Heinrich Mann, Julia Mann, geborene Julia da Silva-Bruhns, aus Brasilien kam. Meine Mutter muss es mir irgendwann gesagt haben. Meine Mutter kommt auch aus Brasilien. Dieses Land ist nicht schüchtern, wenn es darum geht, bahnbrechende Errungenschaften für sich zu reklamieren. Der erste bemannte Flug? Alberto Santos Dumont. Das Radio? Roberto Landell. Und ein bekanntes brasilianisches Sprichwort besagt, dass Gott Brasilianer sei. Da schlug die Nachricht, dass der bekannteste deutschsprachige Schriftsteller der Moderne auch irgendwie Brasilianer sei, bei mir keine großen Wellen.
Ich beschäftigte mich intensiv mit dieser Moderne, aber ich schlug zunächst einen großen Bogen um alles, in dem auch nur ein Hauch von, damals nannten wir es: Multikultur mitschwebte. Ich war eine angehende deutsche Germanistin, die tagtäglich die Frage beantworten musste, warum sie so gut Deutsch spricht. Eine wohlwollende Professorin legte mir nahe, ich sollte mich auf türkisch-deutsche Literatur spezialisieren, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich Deutsch-Brasilianerin sei. Das bestärkte mich noch mehr in dem Vorhaben, mein Forschungsprogramm so deutsch- deutsch wie möglich anzulegen. Ich wollte mit der Wahrnehmung meines Aussehens wenigstens auf dem Papier dezidiert brechen können. Wenn mich jemand fragte, woher meine Familie denn eigentlich komme, sagte ich manchmal wahrheitsgemäß, aber unerwartet: »Ostpreußen.«
Meinen akademischen Absprung in die USA empfand ich als Befreiung. Das germanistische Wissen konnte hier von verschiedenen Körpern getragen werden. Dass es da auch Grenzen gibt, wurde mir erst später klar, aber sie sind immer noch weiter gezogen als in Deutschland. In einem wundervollen Seminar mit Mike Lützeler las ich den Doktor Faustus. Ich wurde immer noch nicht warm mit Thomas Manns Sprache, hier erschien er mir zu pedantisch-pädagogisch, aber ich begann ihn im Kontext des literarischen Exils und seines politischen Engagements zu schätzen. In dieser Zeit begann ich auch, mich mit den Büchern zu beschäftigen, die in der US-amerikanischen Germanistik den deutschsprachigen Kanon erweiterten: von May Ayim bis Feridun Zaimoglu. Ich schrieb über den brasilianischen Schriftsteller Zé do Rock, der die deutsche Orthographie mit seinem ultradoitsh radikal internationalisierte. In einem Artikel über do Rocks Roman fom winde ferfeelt bemerkte der Literaturwissenschaftler Jörg Drews 1995: »Jo, und am End samme natürlich stolz drauf, daß es a brasilianisch deutsche Mynchna is, der wo uns a solchs Gschenk gemacht
hat. Wo mia doch scho amol an Autoa in Mynchn ghabt ham, der wo graoss war und, wenn mas genau nimmt, brasilianisch-deutsch war. Nämli da Thomas Man.« Das war zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland die brasilianische Familiengeschichte der Manns, wenn überhaupt, nur als Fußnote firmierte. Drews nahm es genau und schrieb Julia Mann die Bedeutung zu, die zu dem Zeitpunkt vor allem nur in einem Kontext so gesehen wurde, nämlich in der Familie Mann.
Frido Mann hatte einen Teil seiner Kindheit bei Thomas und Katia Mann in Kalifornien verbracht. Sein Großvater hatte ihm beim Spazierengehen in Pacific Palisades von seiner brasilianischen Mutter erzählt. Seit den achtziger Jahren setzte er sich intensiv mit seiner Urgroßmutter auseinander, mit der ihn der frühe Verlust der Kindheitsidylle verband – für sie Paraty, für ihn Pacific Palisades. Er lernte Portugiesisch und bereiste ab Mitte der neunziger Jahre sein »Stück verlorengegangene Heimat« immer wieder, u. a. mit dem Schweizer Schriftsteller Peter K. Wehrli, der einen sehenswerten Dokumentarfilm über Julia Mann drehte. Frido Mann besuchte auch das Gut, auf dem seine Urgroßmutter ihre frühe Kindheit verbracht hatte, die Fazenda Boa Vista. Der Wunsch entstand, »die Vergangenheit mit der Zukunft zu verbinden«, und er verfolgte über Jahre hinweg das Projekt, ein Kulturzentrum in der Fazenda Boa Vista zu etablieren – auch mit Unterstützung der Bundesregierung und des Goethe- Instituts. Diese Vision scheiterte nach vielen Anläufen an der Unmöglichkeit, das Haus zu erwerben. Aber das Goethe-Institut São Paulo unter der Ägide von Dieter Strauss organisierte eine Wanderausstellung mit einem Katalog, der 1999 auf Deutsch und Portugiesisch erschien und der eine erste tiefgehende Auseinandersetzung mit dieser Geschichte darstellte. Es sollten andere folgen, die auch einer deutschsprachigen Leserschaft vor Augen führten, was in der brasilianischen Öffentlichkeit wie auch in der germanistischen Forschung Brasiliens immer präsent gewesen war – wie zentral für Thomas Mann die Geschichte seiner Mutter war.
Brasilianische Intellektuelle sahen Thomas Mann als Seelenverwandten, und seine Literatur inspirierte brasilianische Autor*innen der Moderne wie José Lins do Rego, João Guimarães Rosa und Clarice Lispector. 1929 interviewte der brasilianische Schriftsteller und Soziologe Sérgio Buarque de Holanda Thomas Mann im Hotel Adlon und kommentierte, dass Thomas Mann bei genauerer Betrachtung tatsächlich doch etwas brasilianisch aussehe. Er schrieb, dass Manns Großmutter, Maria Luiza da Silva-Bruhns, mütterlicherseits eine »crioula« sei, also portugiesischer und indigener Abstammung, wie er ausführte. Für seine brasilianische Leserschaft der Zeit ließ dieser Begriff auch einen Bezug zu afrikanischen Wurzeln zu. Thomas Mann soll in dem Gespräch seinen Stil und sein »nicht sehr deutsches Temperament« auf seine Familiengeschichte zurückgeführt haben. Der Exilschriftsteller Ernst Feder attestierte 1950 für Jornal do Brasil den ästhetischen »Einfluss des brasilianischen Índios« auf Thomas Mann und schickte ihm postwendend seinen Artikel mit einer herzlichen Widmung. Auch der Politikwissenschaftler Vamireh Chacon sah Thomas Mann als einen »brasilianischen Bruder« und erklärte in den siebziger Jahren: »Der Zauberer gehört auch uns.«