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Views from the 6 (I)

Unser Autor Senthuran Varatharajah verbringt die nächsten beiden Wochen in Toronto. In sechs Beiträgen nähert er sich der Stadt an, mit der er seit seiner Kindheit verbunden ist und in die er immer wieder zurückkommt.

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© Foto: Senthuran Varatharajah

berlin, schöneberg
vierter mai
dreiundzwanzig uhr fünfundfünfzig

 

ich sehe die zeit auf dem turm des rathauses gegenüber, zwei busstationen entfernt, über den dächern, die zwischen uns liegen, vom vierten stock, dreiundzwanzig uhr fünfundfünfzig, der himmel ist schwarz: a night sky without exit wounds. die ascheblättchen steigen zu schnell, um gezählt zu werden, bevor sie auf die leeren blumenkästen fallen, auf dem balkon unter mir. ich werfe die zigarette auf die straße.

ich denke an die dinge, die ich vergessen haben werde.
es ist zu spät, um schlafen zu gehen.

 

berlin, flughafen tegel
fünfter mai
sechs uhr drei

 

die bagels wurden in zwei hälften auf einem gelben teller serviert. wir gehen zum gate, als es heller geworden ist hinter den niedrigen fenstern und über den biegungen des asphalts. eine freundin hatte mich abgeholt; wir fuhren zur schönhauser allee, und ich stellte den koffer meines jüngeren bruders schräg auf meinem, schräger, bis sich die heckklappe schließen ließ; die lichter, die in den gebogenen schutzplanken der auffahrt eingelassen worden waren bis zur abflughalle, bemerkte ich wie zum ersten mal. ich nehme meinen rucksack vom band und werde mit einer handbewegung in eine kabine gebeten. das papier besitzt die form einer wartemarke, und es ist grau, mit dem ein abstrich von meinem sweater, meinem mantel und der lasche meines rucksacks genommen wird, ohne ein wort.

der sicherheitsbeamte legt es in die öffnung einer maschine, die das stück einzieht. er schaut auf einen kleinen monitor.

you can go.

ich setze mich zu meinem jüngeren bruder, der sein macbook auf seinen schoß gelegt hat, in die zweite reihe vor ein pult. nächsten donnerstag wird er einen workshop an der york university in toronto zu caste in the south asian diaspora geben. es ist das erste mal, dass wir in dieser stadt zusammen gewesen sein werden.

meine ersten erinnerungen an toronto (I):
die anrufe von verwandten, die wir noch nicht gesehen hatten, samstags, und die leitung, die ihre stimmen unterbrach, wenn der hörer, ohne ankündigung, an unsere ohren gehalten wurde, während wir schliefen, jedes mal wieder, jedes mal wieder mussten sie von vorne beginnen mit dem sprechen; die wrestling figuren, die unser onkel uns geschickt hatte, hulk hogan, the undertaker, bret hitman hart; das lilafarbene trikot der toronto raptors.

das ticket liegt in meinem pass wie ein lesezeichen.

als ich in der zweiten klasse war, wollten unsere eltern nach kanada auswandern. wir gingen auf den spielplatz und begannen, abschied zu nehmen, von unseren freunden und den gegenständen, der brücke, den betonröhren, dem sandkasten.

das boarding hat begonnen.

 

 

brüssel, flughafen zaventem
fünfter mai
neun uhr sechsundzwanzig

 

das licht, das ich sehe, während wir das terminal betreten, hat immer diesen ton; ich sehe es durch die glasfront, die es nicht berührt. ich kann mich nicht daran erinnern, an einem flughafen gewesen zu sein, ohne dieses licht gesehen zu haben (ich habe es). mein bruder faltete seinen dunkelgrauen schal und legte ihn auf meine rechte schulter, auf der er schlief, bis zur landung. ich las ocean vuongs gedichtband night sky with exit wounds; krachts der gelbe bleistift – reisegeschichten aus asien lag in der sitztasche vor mir. als ich vor drei tagen mit meinem lektor telefonierte, sagte er, er würde donnerstags mit seiner freundin auch in brüssel sein; vielleicht würde ich sie sehen. ich dachte an sim city zweitausend, das ich früher nach der schule spielte. ich dachte an die flugsimulatoren, vor denen mein jüngerer bruder und ich gesessen hatten, und wie wir unsere maschinen in hochhäuser lenkten. ich denke an die handbewegung – die linke hand, zeige- und mittelfinger sind ausgestreckt, der daumen gerade nach oben; die rechte ist am abzug –, mit der wir auf dem feld hinter dem haus, in dem unsere eltern immer noch wohnen, standen und turbinen anvisierten, die wir bei ihren namen nannten aus dieser entfernung; wir sind mit brussels airlines nach brüssel geflogen und laufen zu unserem gate, gate dreiunddreißig, brussel airlines to toronto pearson.

unsere mutter wollte anfangs nach toronto fliehen. die schwester, der sie davon erzählte, zerriss ihren pass.

wir laufen an einem abgeschirmten bereich vorbei. an der decke hängt eine neonröhre herunter; ich wollte meinen bruder fragen, ob das noch spuren des anschlags gewesen sein könnten, aber ich frage ihn nicht.

bevor ich ein flugzeug betrete, berühre ich die tür mit meiner linken hand.

 

brussels airlines, airbus a dreihundertdreißig zweihundert
fünfter mai
zwölf uhr neunundzwanzig

 
auf dem bildschirm ist die flugroute zu sehen. als wir am gate warteten, fragte mein bruder mich, was wir früher, vor der einführung von personal television, als wir noch kinder gewesen waren, während langstreckenflügen gemacht hatten, und ich sagte, gewartet.

recent movies:
dark shadows, entourage, getaway, jurassic world, the secret life of walter mitty, southpaw, vacation.


tv series:
big bang theory, fringe, gotham.

als mein lektor und ich vergangenes jahr an der hermannstraße in die u acht stiegen, erzählte ich ihm von meinem letzten besuch im royal ontario museum und dass die knochen der dinosaurier größtenteils nachbildungen waren; es gab einen stegosaurus, ich glaube, es müsste der stegosaurus gewesen sein, an dem jeder bis auf eine rippe nachgebildet war. wir saßen auf einer der seitlichen sitzbänke, und er fragte mich, ob ich früher einen lieblingssaurier gehabt hätte, und ich sagte, velociraptor. wir nahmen uns vor, zusammen in einen saurierpark, dessen namen ich vergessen habe, zu fahren, nachdem er mir bilder von ihm auf seinem iphone gezeigt hatte. ich dachte nicht daran, jurassic world anzuschauen, als ich das programm überflog. ich schaltete den bildschirm auf my flight und dachte an die flugsimulatoren, die wir gespielt hatten, während mein bruder rechts neben mir schlief, den kopf an das fenster gelehnt mit kopfhörern in beiden ohren.

wir haben früher modellflugzeuge gesammelt. wir kannten die namen der größten flughäfen und die logos der meisten airlines. wir standen auf dem feld hinter dem haus, in dem unsere eltern immer noch wohnen, und sahen mit den ausgestreckten fingern der linken hand inmitten von ähren, die größer waren als wir, in den himmel.

 

brussels airlines, airbus a dreihundertdreißig zweihundert
fünfter mai
zehn uhr achtundvierzig

 
distance to destination
zweitausendsechsundsiebzig kilometer

time to destination
drei stunden und vier minuten

altitude
elftausendsechshundertachtzig meter

was unsere eltern nicht konnten, holen wir nach, zu spät und für eine befristete zeit.

you can go now.