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Views from the 6 (III)

Unser Autor Senthuran Varatharajah verbringt zurzeit zwei Wochen in Toronto. In sechs Beiträgen nähert er sich der Stadt an, mit der er seit seiner Kindheit verbunden ist. In seinem dritten Text schreibt er darüber, wie sich seine Wahrnehmung von Toronto nach und nach verändert hat.

toronto, downtown
zehnter mai
einundzwanzig uhr acht

 

this is how i perceive the city.

in den letzten tagen: zu viele zigaretten, zu viel gras, warmer sake, sapporo beer, zu viele partys, zu viel gesprochen; zu wenig schlaf. mein bruder ist in der wohnung von freunden, in der wir, er auf einer matratze, ich auf dem sofa, übernachtet haben, geblieben, ich miete mir ein apartment, seven cameron street, queen street west. ich bestelle ein taxi und versuche zu schlafen.


es ist halb neun abends. ich schließe die tür und biege in die queen street ab. ich gehe zu kenzo. ich bestelle karashi ramen und trinke kirin ichiban. ich zahle mit karte. ich setze mich an der kreuzung bathurst street vor ein möbelgeschäft. ich sehe: schienen und den müll vor dem starbucks auf der anderen straßenseite. wir bleiben sitzen. ich spüre den stein unter meiner linken hand. ihre fingernägel sind türkis.

i've never been to a city where turquoise is as present as it is here.

i haven’t noticed.

the glass facades of those skyscrapers behind us, the chairs in front of mean bao around the corner, your fingernails. it leaps to the eyes.

ein streetcar bleibt vor uns stehen.

die straße ist lila geworden und riecht nach weed. wir laufen nach kensington market. ein mann steht vor einem geschäft, aus dem ich partynextdoor höre. die einzige bar, die nicht geschlossen ist, ist überfüllt. es ist sonntag.

PARTYNEXTDOOR - recognize (feat. drake)

wir fragen einen punk, wo er das bier, das er in der linken hand hält, gekauft hat. an einer wand hängen plakate von skepta, konnichiwa, sechster mai zweitausendsechzehn.

wir laufen in die richtung, in die sein finger zeigt und aus der wir gekommen sind. an einer häuserecke stehen drei männer und eine frau. wir kaufen vier dosen, hollandia, dab, holsten, löwenbräu, sixteen bucks.

keep the change.

ich lege meinen geldbeutel in meine manteltasche und finde den zettel, den die freundin, die meinen bruder und mich zum flughafen brachte, mir vor dem flug gegeben hat. ich lese das reisegebet, das rechts auf arabisch und links auf deutsch steht, mit einem dünnen kugelschreiber, der wie ein bleistift schreibt, geschrieben, im orangefarbenen licht der straßenlaterne.

allah ist größer, allah ist größer, allah ist größer. preis ihm, der uns dies dienstbar gemacht hat, und wir waren dazu nicht fähig; und zu unserem herrn kehren wir gewiss zurück. allah, wir bitten dich für diese reise um frömmigkeit und gottesfurcht und um handlungen, für die du wohlgefallen hast. allah, erleichtere uns diese reise und mache ihre entfernung kurz.

sie dreht sich um und zeigt mit ihrem kopf auf die hauswand, an der sie stehen. ein rotes om, eine heilige silbe im hinduismus, ist auf dem gelben hintergrund der werbung eines vintage stores gemalt worden; ich habe es wiedererkannt. sie fragt mich, ob ich die bedeutung dieses zeichens kenne, und ich sage, i don’t.

allah, du bist der gefährte auf der reise und der stellvertreter der familie.

das bier war gekühlt.

wir laufen an sozialwohnungen vorbei, die mich an east london erinnern. wir sehen den cn tower und diese farbe; ich sage nichts.

wir laufen acht minuten. im hausflur, in der spiegelung im fenster sehe ich, wie sie mich sieht, wie ich sie sehe. ich drehe den schlüssel nach rechts und erinnere mich daran, dass hier türen mit einer bewegung nach links geöffnet werden. ich denke an die cash machines, die hier erst geld und dann karten herausgeben. ich schalte das licht an. das fiji-wasser im kühlschrank ist gefroren. wir setzen uns auf das ledersofa im wohnzimmer.

ich wollte yusef lateefs jazz for thinker/before dawn anklicken und entscheide mich für drakes nothing was the same.

drake - too much (feat. sampha)

sie erzählt von ihrer älteren schwester und ihrem praktikum bei mckinsey. sie ist in vancouver aufgewachsen. ich reiche ihr die löwenbräu-dose. ich wollte sagen, the can matches your fingers, aber ich sage es nicht. mein bier steht auf dem boden. sie fragt mich, wie ich die stadt sehe, und ich zeige ihr king of the fall von the weeknd.

the weeknd - king of the fall

this is how i perceive the city: cold, empty, slowed.

in kirby dicks dokumentation derrida sagt ein mann, der neben derrida durch manhattan läuft, er glaube, amerikaner würden nur existieren, wenn sie gefilmt werden oder glauben, gefilmt zu werden; er sagt, es sei ihre natural condition. derrida zündet sich eine zigarette an; sie überqueren eine straße. ein auto nähert sich. der mann führt ihn kurz am linken ellenbogen. die kamera filmt beide von rechts: you see how americanized i am. es war abend. als ich freitag, am späten nachmittag mit freunden auf ward’s island unter einem pfeil stand, der auf die papierdünne linie, die der horizont war, zeigte, new york fünfhunderachtundvierzig kilometer, – es war nicht möglich zu sagen, wo der himmel endete und wo das wasser begann; sie hatten dieselbe farbe: dunkles grau –, dachte ich an die bilder, die dieser stadt vorausgegangen waren; wenn ich in new york bin, bin ich nicht und nicht nicht in new york. diese stadt ist weder von ihrer fiktion noch von ihrer simulation zu unterscheiden; und vielleicht existiert new york nur als fiktion und simulation, vielleicht entsteht diese stadt nur vor dem objektiv einer kamera, jedes mal wieder, von grund auf; als abbild eines abbildes eines abbildes. ich glaube nicht, in new york irgendwann gewesen zu sein, sondern – und diese ferne ist die einzige nähe – nur in der imagination new yorks, im doppelten sinn: in der vorstellung, die sich die stadt von sich selbst und in der, die sich der rest der welt von ihr macht. diese bilder sammeln und überlagern sich auf dem material, das die stadt ist, asphalt, beton, stahl, glas, fleisch; bis zu dem punkt, bis sie es geworden sind. why do people live in new york? als ich im dritten semester die frage, die baudrillard sich in america stellt, und die antwort, die er gibt, las, dachte ich an toronto. ich stelle mir toronto anders vor; ich sehe die stadt anders, als früher, und anders, als sie ist; cold, empty, slowed. there is no relationship between them.

look outside the window.

i didn’t know that.

114 Varatharajah the weeknd i

the weeknd – king of the fall (eine minute zweiundzwanzig).

sie streicht die asche von meinem arm, die sich in den haaren verfangen hat. die straße ist leer. vereinzelte lichter brennen in den condos und den büros gegenüber. ich denke daran, wie ich früher im schlaf meine augen in die höhlen gedrückt habe, bis ich davon aufgewacht bin, mit wimpern an den fäusten und blind; die hellen punkte, die ich langsam zu sehen begann, blieben am anderen ende eines inneren, imaginierten raums, auf einem schwarzen hintergrund geheftet, verteilt und ohne bewegung. kein geräusch ist zu hören. ich schiebe die glastür zurück.

meine ersten erinnerungen an toronto (III):
mein cousin fuhr auf dem gardiner expressway, ich saß neben ihm; im radio, in dieser reihenfolge: vertical horizon everything you want, aaliyah try again, papa roach last resort. auf meinem schoß lag ein gitarren magazin mit den noten von three doors downs kryptonite und matchbox twentys bent. meine linke hand lag auf dem gips und ich habe leere lichter gesehen in unserer geschwindigkeit abseits der schutzplanken. der wagen roch nach kfc.

ihre haare sind dunkler als meine.

sie zündet den blunt an, den eine freundin gestern auf dem nachttisch vergessen hat.

this is how i perceive the city.

die hochhäuser und deren farbe, diese eine farbe, waren kurz zu sehen im anbruch des tages. ich liege auf der rechten seite. ich warte, bis die glasfassaden licht zurückwerfen werden und mein gesicht halbiert sein wird. ich betrachte die glühbirnen an der decke

Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka, studierte Philosophie, evangelische Theologie und vergleichende Religions- und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. 2016 erschien sein erster Roman »Vor der Zunahme der Zeichen« im S. Fischer Verlag. Sein zweiter Roman »Rot (Hunger)« wurde 2022 veröffentlicht. Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet. Varatharajah ...

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