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Views from the 6 (IV)

Unser Autor Senthuran Varatharajah verbringt zurzeit zwei Wochen in Toronto. In sechs Beiträgen nähert er sich der Stadt an, mit der er seit seiner Kindheit verbunden ist. Für seinen vierten Text hat er sich mit dem kanadischen Musiker River Tiber getroffen.

toronto, downtown
zwölfter mai
ein uhr vier

 

meine ersten erinnerungen an toronto (IV):
zweitausendfünfzehn, ende märz: wir waren nachts in liberty village angekommen. an einem gitter hing die locker box auf brusthöhe. ich stieg aus und gab die zahlenkombination ein: zwei drei acht sechs. auf dem schlüssel stand: room five o seven. wir parkten das auto in der garage unten im haus und nahmen den aufzug in den fünften stock. ich habe mir das gesicht gewaschen und setzte mich auf das dunkelblaue sofa, das vor dem balkon stand. einen monat zuvor, im februar, hatte drake sein mixtape if you’re reading this it’s too late veröffentlicht. das cover: der titel, in schwarzen majuskeln; die buchstaben imitieren eine handschrift und fallen nach rechts, einige nach unten; es fehlen: apostrophe. in der mitte, klein, am unteren ende: betende dürerhände; als zahl links daneben: the six. ich klickte auf no tellin’, und bevor ich das word-dokument – bis zum schluss hieß die datei vdzdz – öffnete, las ich auf pitchfork oder dazed zum ersten mal von dem typen, den drake auf diesem track gesampelt haben soll. ich ging zu soundcloud. die flutlichter des bmo fields brannten im augenwinkel; der leere gardiner expressway. ich gab ein: river tiber. der lake ontario war nicht zu sehen.

ich wusste noch nicht, dass ich seine beiden eps, the star falls und when the time is right, in den nächsten monaten hören werden würde, nach zwei uhr, nur nachts, während des schreibens, bis zum ende des romans.

river tiber - no talk

zwei tage vor der abreise, dienstag, siebzehn uhr siebenunddreißig. ich stehe am mehringdamm und lese die nachricht, die mein lektor mir geschickt hat. ein freund von ihm arbeite bei red bull music academy radio. er würde river tiber kennen. ich solle ihm schreiben. ich schreibe ihm um neunzehn uhr neunundvierzig. sieben tage später stehe ich vor gordon parks the fontenelles at the poverty board, harlem, new york, nineteen sixty seven in der art gallery of ontario und erhalte eine mail von river tibers management: tomorrow, two pm, all that jazz – can that work? ich gebe die adresse in google maps ein und entscheide mich, morgen zu laufen. der name der ausstellung: outsiders: american photography and film, nineteen-fifties to eighties.

wir essen dim sum bei rosewood. ich stehe an der spadina avenue. der himmel wird von kabeln geteilt oder von einem niedrigen netz gehalten. ich nehme mein iphone aus der rechten tasche. die ampeln sind rot.

114 Varatharajah (iii)
© Foto: Senthuran Varatharajah

river tiber - waves

ich nehme mir vor, um dreizehn uhr das apartment zu verlassen. es ist dreizehn uhr dreißig geworden. ich schließe die tür. eine halbe stunde berechnet google maps für die fünf kilometer, wenn ich über die dundas street west laufe. ich laufe in die falsche richtung und nehme ein taxi. wir sind an liberty village vorbeigefahren.

das café: ein flachbau; zwei weiße sitzbänke stehen auf der rechten und linken seite des eingangs. in braunen buchstaben darüber: coffee & all that jazz. um vierzehn uhr drei steige ich aus.

ich kaufe eine flasche wasser und setze mich auf eine dieser bänke. ich zünde mir eine zigarette an und schaue in die sonne, die mir das gesicht in den nächsten beiden stunden verbrennen wird. ein mann spricht in sein headset when i walk down the street i try to be aware of everything. es ist warm. ein streetcar hält an der kreuzung. ich lege meine sonnenbrille zur seite und ziehe meinen pullover aus. ein typ in einem schwarzen hoodie, einer schwarzen jogginghose und schwarzen sneakern ist dabei die tür zu öffnen. ich stehe auf.

tommy? shall we sit outside?

er holt sich einen kaffee und setzt sich rechts neben mich. an die farbe seiner snapback kann ich mich nicht mehr erinnern; sie könnte zwischen grau und hellblau gelegen haben; auf den schwarzen socken: neongrüne hanfblätter.

where shall i beginn?

river tiber  - the city

wir fangen mit der stadt an und ihrem namen: toronto the good, city of churches, t dot – seit if you’re reading this it’s too late wird die stadt – als verweis auf die beiden vorwahlnummern four one six und six four seven, vielleicht auch in anlehnung an die sechs stadtteile, old toronto, scarborough, etobicoke, york, north york und east york, die neunzehnhundertachtundneunzig zu dem toronto zusammengelegt wurden, das mit diesem namen heute bezeichnet wird – the six genannt. drake hat nicht nur der stadt einen anderen namen gegeben; musiker wie partynextdoor, majid jordan, dvsn oder ray woods, die von ovo sound, seinem label, unter vertrag genommen worden sind, the weeknd, jazz cartier, tory lanez, alessia cara, daniel caeser, badbadnotgood hätten – wahrscheinlich, in dieser kürze der zeit – nicht die aufmerksamkeit erhalten, die sie erhalten haben, wenn es den 6 god, wie er sich in dem gleichnamigen track nennt, nicht gegeben hätte. das gilt auch für river tiber. tommy hält die weiße tasse mit beiden händen fest, als wäre es winter; wir sitzen in der sonne, vierundzwanzig grad.

er erzählt.

er erzählt von der kälte, die die menschen eine stadt unter der stadt bauen ließ. er erzählt von den verschiedenen communities, die die bewohner mit einem mosaik und nicht mit einem melting pot vergleichen. er erzählt von den texten, die ihn geprägt haben, die bibel, das dhammapada. er erzählt von seinem schreiben. er erzählt, dass seine lyrics über mehrere monate manchmal entstehen und wie diese zeit die bedeutung verändert, der wörter, und auch die der ereignisse, von denen sie ausgingen, so weit, bis er nicht mehr sagen könne, wovon sie handeln. er erzählt vom schreiben in flugzeugen. it's quiet. you're all by yourself. er erzählt von rumi, neruda, hemingway, hunter s. thompson und walt whitman. er erzählt davon, dass seine lyrics mehr von romanen beeinflusst worden seien als von anderen songtexten. er erzählt, dass musik und texte unabhängig voneinander enstehen. er erzählt, wie er über stunden auf dem gardiner gefahren ist und jeff buckley gesungen hat, um eine stimme zu finden. er erzählt von bach, hendrix, james blake, d’angelo, wu-tang, blink one eighty two und seiner ersten band, mit der er sum forty ones fatlip coverte. er erzählt von arvo pärt; spiegel im spiegel.

river tiber - prophets

er erzählt von der stadt, die ihn an gotham oder dem los angeles aus blade runner erinnert; this big skeleton. er erzählt von seiner kindheit und jugend in downton und seiner vorstellung von der mitte und dem außen; in the centre of it all, there is just nothingness. er erzählt von seinem cello. er erzählt, dass seinen texten und seiner musik bilder vorausgegangen sind und vorausgehen. er erzählt von seinem ersten album, das im juni erscheinen wird und das seit zwei jahren schon abgeschlossen ist. er erzählt von der zeit, die er braucht. er erzählt. er erzählt von den videos, die er selbst gedreht und geschnitten hat. er erzählt von den lichtern der stadt nachts, von slow motion und rewind. er erzählt von rob ford. er erzählt von justin trudeau. er erzählt von seinen eps, auf denen er jedes instrument eingespielt und die er allein produziert hat. er erzählt von letztem november, wie er von la nach paris geflogen ist, um an der red bull music academy teilzunehmen. er erzählt, wie er von den anschlägen am flughafen erfahren hat. er erzählt von den kameras auf den straßen und der stille im hotel, das zehn oder fünfzehn minuten vom bataclan entfernt lag. er erzählt von dem warten derer, die noch nicht wussten; in the centre of it all, there is just nothingness.

ein streetcar hält an der kreuzung vor uns.

er zeigt auf die werbung darauf: embrace your fears.

river tiber - what are you afraid of?

er erzählt von seinen arbeiten mit pusha t, kaytranada, badbadnotgood, jazz cartier und daniel caeser. er erzählt von einsamkeit.

er erzählt von einem schulausflug mit dem orchester nach ausschwitz. er erzählt von seiner großmutter, die in hamburg geboren wurde und mit einem kindertransport nach london kam. er erzählt von dem denkmal, das an der friedrichsstraße steht; in the centre of it all, there is just nothingness.

er erzählt von dem jahr, das er in rom mit seiner familie verbracht hat. er erzählt, wie er jeden tag den tiber überqueren musste auf dem weg zur schule. er erzählt von der zeit, in der er ohne sprache war; i was an outsider but we sat in circles. er erzählt von seinem vater, einem architekten. er erzählt von seinem namen, river tiber, zwei wörter, zwei mal fünf buchstaben, der zweite buchstabe ist ein i, die beiden letzten jeweils e und r; perfect symmetry. er sagt, toronto sei sein zu hause. ich sage, benannt hast du dich nach einem römischen fluss. er sagt nichts.

ein truck parkt vor uns und nimmt die sicht; beau’s – all natural brewing co. vankleek hill, ontario.

where shall i beginn?

ich bestelle ein taxi. ich frage den fahrer auf halbem weg, ob er umdrehen und mich nach liberty village bringen könne, und lange stehe ich vor dem gitter mit den locker boxes neben unserem früheren apartment und versuche mich an die zahlenkombination zu erinnern.

river tiber - the star falls

Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka, studierte Philosophie, evangelische Theologie und vergleichende Religions- und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. 2016 erschien sein erster Roman »Vor der Zunahme der Zeichen« im S. Fischer Verlag. Sein zweiter Roman »Rot (Hunger)« wurde 2022 veröffentlicht. Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet. Varatharajah ...

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