toronto, downtown
fünfzehnter mai
null uhr neun
Views from the 6 (V)
Unser Autor Senthuran Varatharajah hat vor Kurzem zwei Wochen in Toronto verbracht. In sechs Beiträgen nähert er sich der Stadt an, mit der er seit seiner Kindheit verbunden ist. In seinem fünften Text erzählt er von seinem Besuch bei Verwandten, die in Toronto leben.
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als wir kinder waren, war sie hier, ohne ankündigung; ich wusste nicht, dass es nur sechs monate gewesen sein sollen, die sie mit uns in der ersten wohnung, in die wir hatten ziehen dürfen, drei zimmer besaß sie, ein ölofen stand in einem raum, gewohnt hatte. ich erinnere mich weder an ihre ankunft noch an ihr gehen. drei bilder, die geblieben sind: wie wir zu sechst in dem beigefarbenen datsun sunny, dem ersten auto meines vaters, saßen, mein jüngerer bruder auf ihrem schoß; wenn die polizei an uns vorbeifuhr, versteckte er sich zwischen ihren beinen, so wie es ihm zuvor gesagt worden war; es war grau; wir waren durch ein dorf, das auf einem berg lag, gefahren. nebel hing über den feldern abseits der straße. wir hörten die kassette, die sie aus ihrer rechten tasche geholt hatte: roxette, it must have been love: lay a whisper on my pillow, leave the winter on the ground; ihre stimme war schief. wie sie vor meiner grundschule wartete, september, in der jacke unserer mutter, die golden war und glänzte im vormittagslicht neben den schmaleren stufen. wie sie an einem samstag über mich lief, während ich auf dem teppich lag und betete. sie war achtzehn, als sie zu uns kam, anfang der neunziger, nach dreimonatiger flucht.
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es ist siebzehn uhr dreiundzwanzig.
ich steige in ein streetcar.
mein bruder steht vor der bathurst station mit melona in seiner linken hand. wir fahren nach scarborough, line two, bloor-danforth. ich lege roger willemsens die enden der welt auf meinen schoß und den kopf auf seine schulter, nachdem die wifi-verbindung abgebrochen ist; ich versuche zu schlafen. ich schlafe nicht.
zwei frauen stehen neben uns und sprechen tamil.
ich höre sie sprechen.
in deutschland leben sechzig-, in kanada zweihunderttausend tamilen; in toronto gibt es die größte tamilische diaspora weltweit. mein bruder sagt, dass er manchmal fünf tage lang durch berlin laufen kann, ohne jemanden, der ein tamile sein könnte, zu sehen. er sagt, in toronto gehören gesichter wie unsere zum stadtbild. er sagt, hier, in dieser stadt gehören unsere gesichter zum alltag. er zeigt mit beiden händen auf seine wangen. ich wollte sagen, ich habe kein gesicht, aber ich sage es nicht. ich versuche zu schlafen. ich schlafe nicht. der älteste sohn unserer cousine holt uns im scarborough town centre ab. er ist achtzehn. ich erkenne ihn nicht wieder.
meine ersten erinnerungen an toronto (V):
mein cousin parkte das auto am bürgersteig. er holte die krücken aus dem kofferraum und öffnete meine tür. meine cousine und ihr mann warteten vor ihrem haus, in einer gegend, in der jedes gebäude gleich aussah. ihr sohn stand auf dem rasen, der hell war, zwischen grün und gelb, und nach links von einem wind geordnet. er müsste zwei jahre alt geworden sein.
die tamilischen freunde, die hier geboren wurden, sagen back home, wenn sie von sri lanka sprechen.
wir stehen vor diesem haus, das anders aussieht, als in meiner erinnerung. es ist abend.
sie öffnet die tür. ich sehe die sechzehn jahre, die wir uns nicht gesehen haben.
ullukke vanko.
ivvalavu nalaga nan unai kanela.
sie umarmt mich.
ich sage ihren namen.
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wir sitzen in der offenen küche gegenüber ihrem jüngsten sohn, den ich vergessen haben muss. die lampe hängt tief. er ist elf. ich wusste nichts von ihm. ihr mann sitzt auf dem sessel, ihr ältester sohn steht am herd neben ihr; ihr mittlerer sitzt auf der couch. der kopf ihrer mutter, die älteste schwester unserer mutter, liegt auf seinem schoß. ich frage sie nach ihrem alter und sie sagt fünfundsiebzig. wir essen – ich kenne den namen nicht. ich frage meinen bruder auf deutsch, wie der jüngste und ihr zweiter sohn heißen. er soll ihre namen buchstabieren. er sieht mich an.
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sappudongo.
nan sapperen, akka.
er buchstabiert.
sie setzt sich neben mich. ich halte mich kurz. sie sagt, mein tamil, sie sagt, ich würde sprechen wie ein kind. ich wollte etwas sagen, aber ich sage nichts. im hintergrund laufen die playoffs, raptors gegen miami heat.
sappudongo.
nan sapperen, akka.
wir bleiben zwei stunden. ihr mann fährt uns zurück zur station, als es dunkel geworden ist. wir verabschieden uns mit einem handschlag vom fahrersitz zur rückbank. die rt, in die wir steigen, ist leer. ich sehe die spiegelung meines jüngeren bruders in der scheibe gegenüber. auf dem boden liegen zeitungen neben den tupperdosen, die unsere cousine uns mitgegeben hat und aus denen ich nicht essen werde. das licht über uns ist kalt. ich schaue meine hände an und denke meine hände sind flüsse. ein mann steigt zu. mein bruder sagt, some people draw family trees, others family maps. ich sage nichts.
Graphik: Sinthujan Varatharajah