Interviews

»Die Liebe leben und über Gewalt schreiben«

Ein Interview mit Édouard Louis über Freundschaft, Toni Morrison und seinen neuen Roman.

Édouard Louis, wie war es für Sie, nach Ihrem Roman »Das Ende von Eddy« das zweite Buch zu schreiben?

Nachdem ich »Das Ende von Eddy« zu Ende geschrieben hatte, habe ich direkt danach angefangen, an einem neuen Manuskript zu arbeiten. Es sollte eine Liebesgeschichte werden. Nach der harten Realität, die ich in meinem ersten Roman beschrieben habe, die Armut, den Rassismus und die Welt der Provinz, hatte ich Lust auf etwas ganz anderes…

Aber dann wurde es doch keine Liebesgeschichte.

Dann passierte mir in Paris in einer Dezembernacht etwas, wovon ich in »Im Herzen der Gewalt« erzähle. Ich habe das Manuskript der Liebesgeschichte beiseitegelegt. Mir wurde klar, dass es eine unmittelbare Dringlichkeit gibt, davon zu erzählen, was ich erlebt habe, dass ich es mir einfach nicht erlauben kann, über etwas anderes zu schreiben. Vielleicht ist es besser, die Liebe zu leben und über Gewalt zu schreiben.

Was war der Ausganspunkt, was stand am Anfang Ihres Romans?

Eine Begegnung. Auf der Place de la République lernte ich nach einem Abendessen mit Freunden auf dem Weg nach Hause einen jungen Mann kennen. Er hieß Reda. Wir kamen ins Gespräch. Ich lud ihn ein, mit zu mir nach Hause zu kommen, in meine kleine Wohnung. Wir haben die Nacht miteinander verbracht, es gab anfangs eine starke Anziehung zwischen uns, er erzählte mir von seinem Leben. Wir haben geredet und viel gelacht. Und dann gab es den Punkt, an dem die Nacht plötzlich kippte. Reda wurde gewalttätig, er zog eine Waffe und bedrohte mich.

Und es ist Ihre Schwester, die im Roman erzählt, was Ihnen widerfahren ist.

Genau, meine Schwester erzählt, was sich zwischen Reda und mir abgespielt hat. Ich bin bei ihr zu Hause, ein paar Wochen nach dieser Nacht, in jenem Dorf in Nordfrankreich, in dem wir zusammen aufgewachsen sind. Das Buch beginnt also im Grunde mit der Beschlagnahmung und Enteignung einer Geschichte, denn meine Schwester ist es, die erzählt, was mir widerfahren ist. Und im Laufe der Geschichte zeigt sich, dass das, was sie erzählt, nicht wirklich mit dem übereinstimmt, was tatsächlich passiert ist. Es gibt eine fortlaufende Diskrepanz zwischen dem, was ich erlebt habe und dem, was sich ihr zufolge abgespielt hat.

Es geht also auch darum, was die Sprache der anderen mit uns macht?

In »Das Ende von Eddy« ging es darum, wie sehr uns die Sprache der anderen unweigerlich definiert. Zum Beispiel, wenn wir beschimpft werden, wenn jemand sagt: »Du bist ja nur ein Schwuler, nur eine Frau, ein Jude, ein dreckiger Araber.« Wie solche Worte unsere Identität formen, ohne dass wir es wollen. In »Im Herzen der Gewalt« liegt die Sache anders: Meine Schwester spricht über mich, erzählt meine Geschichte, aber das, was sie sagt, korrespondiert nicht mit meiner Erfahrung. Im Gegenteil, es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was sie über mich sagt, und wer oder was ich tatsächlich bin. Es geht um diesen Unterschied, um das Versagen der Sprache, aus dem heraus oft Unglück und Leid entsteht.

Der junge Mann, der Sie angegriffen hat, Reda, hat Wurzeln in Algerien, sein Vater ist nach Frankreich geflohen. Einige der stärksten Passagen des Buches sind für mich die, in denen der Erzähler sich selbst befragt zu seinen Vorurteilen, zu dem reflexhaften Rassismus, den er und viele andere jungen Immigranten entgegenbringen. Ist es Ihnen schwergefallen, dieses Buch zu schreiben, in dem Reda als gewalttätig und kriminell auftritt?

Ja, das ist mir sehr schwer gefallen. Monatelang habe ich gezaudert. Als ich anfing, an dem Roman zu arbeiten, hatte ich Angst, dass man den Text als rassistisch lesen könnte –
nach dem Motto, seht mal, was die Kinder von Immigranten so alles anstellen. Ich habe sogar darüber nachgedacht, aus Reda einen Norweger oder Belgier zu machen. Aber das wäre absurd gewesen. Was Rassismus ausmacht, ist die Art, wie man ein Buch schreibt, und nicht das Thema. Wenn Toni Morrison einen Roman über eine Schwarze schreibt, die ihr Kind tötet, wie sie das in »Menschenkind« getan hat, wird das Buch ja auch nicht als rassistisch oder frauenfeindlich gelesen.

Sie haben Toni Morrison vor kurzem in New York getroffen. Wie war diese Begegnung?

Es war wundervoll, Toni Morrison kennenzulernen. Wir haben über William Faulkner gesprochen, über Literatur, über Rassismus, wir haben zusammen Mittag gegessen und dabei Wodka getrunken. Die Bücher von Toni Morrison waren wahnsinnig wichtig für mich. Sie ist ein Vorbild, weil sie mit ihrem Schreiben seit jeher denen eine Stimme verleiht, die keine Stimme haben. Das berührt für mich den Kern dessen, was Literatur vermag. Denen eine Stimme geben, die keine haben.

Neben Reda, der gewalttätig wird, sind es auch andere Formen von Gewalt, die Sie in Ihrem Roman sichtbar machen.

Ja, etwa die Gewalt, die Redas Vater erlebt hat, als er in Paris ankam und in einem Immigranten-Heim untergebracht wurde. Oder wenn meine Schwester etwa davon erzählt, wie Reda mich ausgeraubt hat, erwähnt sie, dass auch ich als Kind gestohlen habe. Wenn sie davon erzählt, wie Reda in jener Nacht aggressiv wurde, erzählt sie, dass auch unser Bruder oft aggressiv war und wie er immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kam. Sie erzählt von Redas Gewalttätigkeit, aber auch von der Gewalt in unserer Kindheit und stellt indirekt eine Verbindung her. Sie erzählt von unserem Cousin, der im Gefängnis gestorben ist. Sie zeigt, dass alles, was Reda tut, im Grunde Dinge sind, die wir aus unserer Kindheit kennen, aus einem kleinen »weißen« Dorf in Nordfrankreich, und dass Gewalt überall vorkommt.

Die Freunde des Erzählers bringen den Erzähler, Ihr Alter Ego, dazu, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Warum möchte er selbst das eigentlich nicht?

Diese Szene ist eine der wichtigsten des Buches. Die Freunde, meine Freunde, sagen, du musst Anzeige erstatten, aber ich möchte es eigentlich überhaupt nicht. Es ist mir gelungen, mich aus der Situation zu befreien, in der Reda mich bedroht hat. Ich bin mit dem Leben davongekommen. Und ich möchte das alles nicht noch einmal durchleben, indem ich Richtern, Medizinern, Polizisten Auskunft gebe.

Sie wollten das alles nicht noch einmal erzählen?

Das berührt ein grundsätzliches Problem, das eine Anzeige oder Aussage mit sich bringt: Warum wird eine Person, der etwas zugestoßen ist, gezwungen, noch einmal darüber zu sprechen?

So als ob über eine Gewalterfahrung reden zu müssen eine neuerliche Form der Gewalt darstellt?

Ja, als ob man etwas erst körperlich erleiden muss, und dann noch ein zweites Mal über die Sprache. Ich habe Menschen kennengelernt, für die das Sprechen über Gewalt ungleich schwerwiegender war als das Erleben der Gewalt selbst. Zugleich weiß ich natürlich, dass es eine wichtige Errungenschaft ist, überhaupt Anzeige erstatten zu können. Es ist eine Errungenschaft, die wir unter anderem dem Feminismus zu verdanken haben. In Russland oder dem Iran können Sie, wenn Sie eine Frau sind oder homosexuell, gar nicht erst Anzeige erstatten. Es ist kein Ort für Sie vorgesehen, an dem Sie Ihre Tränen deponieren können. Niemand wird Ihnen überhaupt Gehör schenken, weil die Institutionen dort auf der Seite der Aggressoren sind. In meinem Buch geht es um diesen Widerspruch: die Notwendigkeit, Anzeige zu erstatten und die Last, die das Aussagenmüssen mit sich bringt für denjenigen, der es tut. 

Ich habe Ihr Buch auch als ein Buch über Freundschaft gelesen. Über Freunde, die einem beistehen, egal was passiert.

Ganz bestimmt. Die Freundschaft mit Didier und Geoffroy – die im echten Leben Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie sind, das ist kein Geheimnis – hat mir ermöglicht, diese Geschichte hinter mir zu lassen und darüber zu schreiben. »Im Herzen der Gewalt« ist auch ein Buch darüber, wie schwer es ist, sich zu befreien.

Ihr Buch ist autobiographisch, und Sie beschreiben fast soziologisch genau, was in der Nacht mit Reda passiert. Warum verstehen Sie »Im Herzen der Gewalt« dennoch als Roman?

Für mich steht fest, dass ich Gefühle und Erlebnisse mit den Mitteln der Literatur viel radikaler darstellen kann als mit den Mitteln der Soziologie. Nicht umsonst hat auch Didier Eribon sein Buch »Rückkehr nach Reims« mit den Mitteln der Literatur geschrieben. In meinem Roman gibt es zum Beispiel die Szene, in der Reda gewalttätig wird und mich würgt. Während er das macht, schreit und lärmt er. In den Tagen darauf, nachdem ich mich befreit habe, macht mir nichts mehr Angst als der Lärm, der mich umgibt und von überall her auf mich einzuprasseln scheint.  Es fühlt sich fast so an, als seien der Lärm und die Schreie vor allem anderen auf der Welt gewesen. Als sei der Lärm das schlimmste überhaupt. Wie hätte ich diesen Zustand beschreiben sollen, wenn nicht mit den Mitteln eines Romans?

Wo sollte Ihr Roman in Buchläden liegen, wenn Sie es sich aussuchen dürften?

Am liebsten neben den Büchern von Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie. Und in der Nähe von Toni Morrison und William Faulkner, den beiden Autoren, die ich am allermeisten bewundere. Aber es gibt noch so viel mehr Autoren, die mich begeistern, zum Beispiel Zadie Smith, Ta Nahesi-Coates oder Ocean Vuong.  Sie alle fordern uns heraus, schreiben keine Bücher, die egal sind. Wenn es in dem Buchladen auch Filme gäbe, würde ich mit meinem Buch gern in der Nähe von den Filmen von Xavier Dolan liegen, der ein Freund von mir ist und den ich unendlich bewundere.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Wovon träumen Sie?

Ich muss gestehen, dass mir das Schreiben unheimlich schwerfällt. Jeden Tag setze ich mich an den Schreibtisch und arbeite, und es geht mir nicht leicht von der Hand, ich empfinde es als hart und anstrengend. Ich beneide Autoren, die das Schreiben glücklich macht. Und manchmal träume ich davon, etwas komplett anderes zu machen, zum Beispiel, Theater zu spielen. Ich habe jahrelang Theater gespielt, und es fehlt mir sehr. Oder ich würde gern für eine Zeit nach Spanien oder Italien fahren, irgendeine kleine Arbeit aufnehmen, viel in der Sonne sein, draußen sein. Aber ich weiß, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Wenn ich die Welt um mich herum sehe, gerate ich in Rage, und diese Rage treibt mich an. Sie zwingt mich unweigerlich zum Schreiben.

Interview: Friederike Schilbach

Édouard Louis

Édouard Louis

Édouard Louis wurde 1991 geboren. Sein autobiographischer Debütroman »Das Ende von Eddy«, in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf erzählt, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Seine Bücher erscheinen in 30 Ländern und werden vielfach fürs Theater adaptiert und verfilmt. Über seine literarischen Positionen gab er u.a. Auskunft als Samuel Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin (2018), bei der Mosse Lecture an der Humboldt-Universität Berlin (2019) oder 2023 bei den Tübinger Poetikvorlesungen. Zuletzt erschienen »Wer hat meinen Vater umgebracht« und »Die Freiheit einer Frau«, der Gesprächsband mit Ken Loach »Gespräch über Kunst und Politik« sowie »Anleitung ein anderer zu werden«. Édouard Louis lebt in Paris.