Spiegel Literaturkanon

Welches sind die besten deutschsprachigen Erzählwerke zwischen 1924 und 2024?

Die vierköpfige Literaturjury des SPIEGELS hat eine Entscheidung getroffen: Von Thomas Mann bis Clemens Meyer – hier sind die Bücher, die ein Jahrhundert geprägt haben. Wir freuen uns sehr, dass 18 Bücher des S. Fischer Verlags einen Platz auf dieser Liste erhalten haben. In den kommenden Wochen stellt jeden Montag ein*e Verlagskolleg*in eine Auswahl der Bücher auf dieser Seite vor.

Hier klicken, um zum SPIEGEL-Artikel zu gelangen.

Petras Empfehlungen:

»Der Zauberberg« von Thomas Mann
Aus geplanten drei Wochen Aufenthalt im Sanatorium werden sieben Jahre. Keine Angst, so geht es einem beim Lesen nicht, obwohl ein »leichtes Fieber« nicht auszuschließen ist. Viel passiert und doch so wenig. Davos, die Sanatoriumsgäste, die zunehmend gereizter werden, die schöne Russin und Streitgespräche, die in einem Duell münden. Lesenswert!

»Die letzte Welt« Christoph Ransmayr
Ransmayr lesen, heißt für mich, lesen mit allen Sinnen. Die steinerne Stadt Tomi am Schwarzen Meer, Ort der »Letzten Welt«, riecht man, spürt man, fühlt man. Hier sucht Cotta den totgeglaubten Dichter Ovid und sein verschwundenes Werk. Seltsame Gestalten bevölkern den Ort, wundersame Dinge geschehen. Wird Cotta verrückt?

»Blaue Frau« von Antje Rávik Strubel
»Beim geklauten Portemonnaie fragt keiner, ob du dem vermeintlichen Dieb nur was anhängen willst. Da glaubt man dir sofort. Wenn du missbraucht oder vergewaltigt wurdest, glaubt dir keiner.« Zu Recht bekam Strubel für dieses Buch 2019 den Buchpreis, Es hat nichts an Dringlichkeit und Aktualität verloren.

»Die Projektoren« von Clemens Meyer
Ich lese das Buch bereits zum zweiten Mal, empfehle es jedem, der mir über den Weg läuft. Ein Buch, das komplett absorbiert. Nacherzählen ist unmöglich. Es ist ein Epochenroman, groß und überwältigend. Erinnerungen werden wach: die Karl-May Filme der Kindheit, die Jugoslawienkriege; Geschichte, bis in die Gegenwart hinein. Absolutes Highlight!

Ingmars Empfehlungen:

»Das Schloss« von Franz Kafka
Kafka ist zeitlos. 
»Das Schloss« hat auch nach 100 Jahren keine Patina angesetzt. Man kann Kafka mit 18 lesen oder mit 30 oder mit 50 Jahren – Kafka geht immer. Die Geschichte des Landvermessers K., der vergeblich versucht, das Schloss, wohin er bestellt wurde, zu betreten, hinterfragt unser Weltverständnis. Alles irgendwie undurchschaubar. Und genial.

»Traumnovelle» von Arthur Schnitzler
Zuerst habe ich den Film gesehen, Kubricks »Eyes Wide Shut». Als ich das Buch las, war ich überrascht, wie stark sich die New Yorker Filmhandlung an die Vorlage angelehnt hatte, wie viele Skurrilitäten und Absonderlichkeiten bereits bei Schnitzler auftauchen. Nur ist die psychoanalytisch vielfach deutbare Geschichte über die »kaum geahnten Wünsche» des Ehepaars Fridolin und Albertine in Wien viel besser aufgehoben.

»Austerlitz« von W.G. Sebald
Es war reiner Zufall oder vielleicht Intuition, dass ich Sebalds »Austerlitz« im Urlaub in Antwerpen las, wo der Roman mit einer Beschreibung des imposanten Bahnhofs beginnt. Dass ich sofort gefangen war vom unvergleichlichen Sebald-Sound war kein Zufall, ebenso wenig wie Platz 8 auf der New York Times' 100 Best Books of the 21st Century-Liste. Ein Meisterwerk!

»wir schlafen nicht« von Kathrin Röggla
Kathrin Röggla durchleuchtet das Arbeitsleben einer neuen Working Class Anfang der Zweitausenderjahre: Consultants, Account Manager, Coaches, Internet-Profis. Allen gemeinsam ist: sie sind jung, einsatzwillig, aufstiegsfokussiert, sie verpassen nichts. In Rögglas Roman geben sie Selbstauskunft über eine fremde Welt. Nein, sie schlafen nicht, leider!

»Teil der Lösung« von Ulrich Peltzer
Ein Berlin-Roman wie oft bei Peltzer. Eine wunderschöne Liebesgeschichte zwischen der Aktivistin Nele und dem Journalisten und Bohemien Christian. Vor allem ein hochpolitisches Buch über Gerechtigkeit, Widerstand und Deutungshoheit und das richtige Verhalten in Zeiten, in denen vieles falsch läuft. Wie gegenwärtig ist das denn?

Hans’ Empfehlungen:

»Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« von Walter Benjamin
2024 wurde »Aura« zum Jugendwort des Jahres. Walter Benjamin hätte sich gefreut, denn er entdeckte »Aura« als ästhetische Kategorie. Von Anfang an war sein Leben von auratischen Gegenständen bestimmt: dem mysteriösen Telefon zum Beispiel in der durch schwere Vorhänge düsteren Wohnung seiner Kindheit.  Das Buch ist das beste Ticket zu einer Zeitreise in ein untergegangenes Berlin.

»Faserland« von Christian Kracht
Das Erscheinen von »Faserland« war wie das Aufzischen eines Streichholzes in einer dunklen Halle: plötzlich sah jeder, wie leer alles war und welche Intensität ein Buch versprühen konnte. Das Buch über eine Reise längs durch Deutschland, von Sylt an den Bodensee, teilte die deutsche Gegenwartsliteratur in eine Zeit davor und danach.

»Hiob« von Joseph Roth
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass das Lieblingsbuch von Marlene Dietrich eine Auswanderergeschichte war. Aber der Held aus einem osteuropäischen Schtetl findet in Amerika kein Glück, im Gegenteil: Er ist ein Hiob, der einen Gott liebt, der ihn nur zu strafen scheint. Bis am Ende alles ins Lot kommt und sein Leben zur Legende wird …

»Die gerettete Zunge« von Elias Canetti
Wie in einem wilden Kartenspiel wechselte in Elias Canettis Leben ein Ort auf den nächsten: geboren in Bulgarien, Kind in Manchester, Schüler in Wien, Gymnasiast in Zürich und Frankfurt. In »Die gerettete Zunge« versucht der Literaturnobelpreisträger diesen Lebensweg als seinen zu 
verstehen, als Suche nach seiner wahren Heimat, der Sprache.

»Atemschaukel« von Herta Müller
»Ich weiß du kommst wieder.« Wie so ein einfacher Abschiedssatz der Großmutter zu einer Prophetie wird, die den Helden im Arbeitslager fünf Jahre überleben lässt: davon handelt dieser große Roman. Und mit dem »Hungerengel« hat Herta Müller vielleicht eine der berührendsten Figuren geschaffen: dieser Engel sollte als Lesezeichen in jedem Buch liegen.

Saschas Empfehlungen:

»Berlin Alexanderplatz« von Alfred Döblin
Geht das überhaupt – vom Chaos und der Vielstimmigkeit einer modernen Großstadt erzählen? Alfred Döblin hat mit »Berlin Alexanderplatz« schon 1929 gezeigt, dass es geht. Klar, man kann nicht nur bei Döblin jede Menge lernen über die ach so aktuellen 20er Jahre. Aber immer wenn ich wirklich noch mal eintauchen will in das Lebensgefühl und Tempo der Zeit, dann schnappe ich mir Döblins fabelhaften Roman.

»Die größere Hoffnung« von Ilse Aichinger
Was für eine mutige, wunderbare Idee, kurz nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror: eine Geschichte vom Hoffen und Überleben und Fremdsein aus der Sicht der Kinder zu erzählen. Wer dieses Buch liest, wird davon träumen. Aber schon nach wenigen Sätzen von Ilse Aichinger sind unsere Träume so genau, so heiter und voller Zorn wie nie zuvor. 

»Die Palette« von Hubert Fichte
Wenn es einen Roman gibt, der die Unruhe von 1968 in Sprache, in Literatur verwandelt hat, dann ist es Hubert Fichtes früher Pop-Roman »Die Palette« über das gleichnamige Hamburger Kellerlokal. Manchmal muss man eben nur in einen Keller hinuntersteigen und landet in einer anderen Welt.

»Die Gelbe Straße« von Veza Canetti
Die Ferdinandstraße in Wien ist zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts die Heimat der Lederhändler und Huren, der Waisenkinder und Kleinkriminellen. Veza Canetti hat dort gelebt. Ihre Lebens- und Ehegeschichte mit dem späteren Literaturnobelpreisträger Elias Canetti ist eigentlich selbst ein Roman. Aber »Die Gelbe Straße« ist der schönere.