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ABGEBROCHENES GEDICHT

Frühjahr und Herbst in New York, Autobahnen, ein Fest im Wald, nachts im Club… Reinhard Kaiser-Mühlecker hat uns ein ›ABGEBROCHENES GEDICHT‹ geschickt.

114 Reinhard Kaiser-Mühlecker
© © Jürgen Bauer

In Upstate New York 
im frühen Frühjahr 
sah ich die Catskills und es sah aus 
wie zuhause 
an einem Tag im späten Herbst 
wenn das Laub schon liegt 
und der erste Tote
und die Fliegen nicht mehr fliegen
sondern ganz langsam werden und wieder und
wieder gegen Fensterscheiben stoßen
Eine lange Autofahrt 
eine Irrfahrt mit einem 
den ich zwei drei Mal sah
wir überquerten den gewaltigen Stausee 
der New York mit Trinkwasser versorgt
vernagelte Häuser 
auf der Suche nach einem anderen 
der dort irgendwo wohnte
just to say hello to get to know each other 
am Ende jedoch blieben wir bis tief in die Nacht 
es war ein jüdisches Fest 
mitten im Wald 
wir saßen um den langen Tisch 
Plastiktischdecke mit Blumenmuster angerostete Metallklemmen  
und beteten 
sieben acht Personen 
auch ich bekam 
eine Kippa 
auch ich las 
aus dem Alten Testament und war unversehens 
was ich nie gewesen bin 
Vetreter einer Nation 
und wollte verschwinden
manchmal kommen Elche bis ans Haus 
sagte der Gastgeber meiner Erinnerung nach 
Elche 
Gewesenes und Nichtgewesenes 
er hatte eine Schreibhütte 
wie Bernhard Shaw 
nur größer
in die er manchmal ging um Platten zu hören 
schrieb fast nie veröffentlichte nichts 
hörte Platten so wollte er's 
(…) 
In der 44. Straße Whisky 
vor den Toiletten Türsteher 
und Aufzüge 
aus denen Leute stiegen 
plötzlich da waren 
es lief Musik man konnte nicht sprechen 
und die Kellnerin war bleich bis in die Lippen 
that goddamned bitch hörte ich am Tresen 
jemanden sagen 
fuck man how often I've told her honey you tire me
so laut und doch hörte ich das 
Erinnerung in der Erinnerung 
und dachte an fünfunddreißig Mescals 
den der sein Kanu in einen Mond stieß 
aber dann draußen auf dem Weg ins Hotel 
kein Mond obwohl's die 35. Straße war 
Ecke Fifth Avenue 
nur der hellschwarze Himmel über Manhattan 
und der Wind tief unten der nichts ausließ 
(…) 
Und der Fuchs der meinen Weg kreuzte 
aus der Fichtenschonung 
zwischen Autobahn Friedhof und Baumschule brach 
und flog als hätte er keine Beine 
über die weit und ungeschützt daliegende Wiese 
beim morgendlichen Gehen 
in Ulriksdal in einem anderen Herbst 
als das Laub schon lag und der erste Tote 
Ahornblätter gelbe kreiselndfallende Sternbilder 
oder tausend Herzschläge in einer Sekunde 
war es ein Goldschakal 
der Schauder kurz darauf 
wenn Eiswind vom Meer her 
einem den Hosenstoff an die Beine drückt 
das Zittern im harten Gras 

(April 2016)

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange ...

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